Chronik

. . . der fortlaufenden Ereignisse –

„The early Days“

Ich erinnere mich oder besser gesagt es gibt einige Episoden in meiner Kindheit/Jugend, Verena Kast bezeichnet es als Komplexepisoden, die meinem Leben ihren Stempel aufdrückten, die mich prägten.

Die wohl einschneidendste Episode in meinem Leben, unter der ich Jahrelang zu leiden hatte und die u.a. für meine jahrelange Drogenabhängigkeit mit dazu beigetragen haben dürfte, nahm ihren Anfang als ich im Alter von 11 Jahren in ein Internat gekommen bin.

Doch der Reihe nach.

1947/48 kamen meinen Eltern mit buchstäblich „Nichts“, als nur dem was sie am Leib getragen haben in den Westen. Die Jugend meiner Mutter fiel in die Zeit des 2. Weltkrieges, einer Zeit in der Mangel und Entbehrung in der Bevölkerung Programm war. Der Vater meines Vaters fiel in den letzten Tagen des 1. Weltkrieges. Seine Mutter heiratete danach in eine Bankiersfamilie ein. Unglücklicherweise wurde mein Vater von seinem Stiefvater nicht akzeptiert, sodaß er von seinen Großeltern, den Eltern seiner Mutter aufgezogen wurde, die nach Erzählungen, einfache Leute gewesen waren.

Ich wurde 1950 am 10. März in Rüsselsheim geboren. Meine Eltern lernten sich während des Krieges in Jena kennen. Nach dem Ende des Krieges hat mein Vater, da er nicht auf Grund seiner politischen und militärischen Laufbahn während des Krieges von der russischen Besatzungsmacht verhaftet werden wollte, zusammen mit meiner Mutter 1946 Jena verlassen um zu den Eltern meiner Mutter die zu dieser Zeit wieder im Odenwald lebten zu ziehen. 1948 haben meine Eltern geheiratet. Anfang 1950 hatte mein Vater eine Stellung als Ausbildungsleiter bei den Opel Werken in Rüsselsheim angetreten. Dort arbeitetet er bis 1954. Im gleichen Jahr bot man ihm eine Stelle als Ausbildungsleiter bei den Adlerwerken in Frankfurt/Main an.

1955 sind meine Eltern in einen Wohnblock einer Wohnungsbaugesellschaft nach Frankfurt umgezogen. Die 50 ger Jahre waren die Blütezeit des „Wirtschaftswunder“ in Deutschland. Neben seiner Tätigkeit als Ausbildungsleiter bei den Adlerwerken war mein Vater einige Jahre in der Prüfungskommission der IHK in Frankfurt sowie Berufsschulehrer für Auszubildende Metallhandwerker. Zu dieser Zeit bot sich ihm die Gelegenheit die Schriftleitung einer Zeitung zu übernehmen. Der wirtschaftliche Erfolg und damit verbundene gesellschaftliche Aufstieg veranlaßten meine Eltern sich für den Bau eines Haus, eines eigenen Heimes zu entscheiden.

Das Erlangen von Eigentum und Besitz und das damit verbundene Gefühl/Bedürfnis von Sicherheit war eine starke Triebfeder für meine Mutter. Mangel und Entbehrungen die sie in ihrer Jugend im 2 Weltkrieg am eigenen Leib erfahren hatte, haben sie sehr stark geprägt. Eine Episode die mich heute noch lächeln läßt, ist das mein Vater so erzählte mir meine Mutter nach seinem Tod, nicht mit Geld umgehen konnte. Eine Eigenschaft die ich u.a. von ihm mit auf meinen Weg bekommen habe. Mehr wie einmal hielt er mir vor das ich nicht in der Lage sei mit Geld auszukommen, und er sich deshalb frage „wie das mal enden solle“. Er verdiente schon immer sehr gut, doch haushalten war nicht seine Stärke. Aus diesem Grund „verwaltete“ meine Mutter die Finanzen in unserer Familie. Sie war der Finanzminister wie mein Vater des öfteren bemerkte. Von ihr kam auch der Wunsch nach Eigentum, nach einem eigenen Haus.

Während die meisten Bewohner in dem Wohnblock den wachsenden Wohlstand in vollen Zügen genossen haben, lebten meine Eltern sehr sparsam. Was das Konsumverhalten in der Bevölkerung der damaligen Zeit ausgelöst durch das „Wirtschaftswunder“ betraf, so war der Alltag meiner Eltern von Ausnahmen wie Weihnachten, Ostern und den Geburtstagen abgesehen von Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit geprägt. Ich erinnere mich an unsere damaligen Nachbarn Herr und Frau Münk, ein kinderloses Ehepaar, die beide arbeiteten und die im gleichen Stock wie meine Eltern wohnten. Familie Münk gehörte zu den ersten Bewohnern im Haus die im Besitz eines Fernsehgerätes waren. Während einer der üblichen nachbarlichen Einladungen zum allabendlichen Fernseh schauen, erinnere ich mich wie ich in der Küche von Frau Münk stand und ihr staunend beim Schnitzel braten zuschaute. „ Bei uns gibt es immer nur Hackfleisch“ sagte ich. Diese Episode wurde Jahre später immer wieder mal erzählt wenn wir darauf zu sprechen kamen wie sich meine Eltern ihr Haus buchstäblich „vom Mund abgespart“ hatten. Zu diesem Zeitpunkt war ich 8 oder 9 Jahre alt.

Ein weiterer Aspekt der seine Spuren hinterlassen hatte, waren die Beziehungen die ich zu meinen damaligen Klassenkameraden hatte. Eine der Maxime meines Vaters war es gewesen, das man sich immer an die Menschen halten sollte die es zu etwas in ihrem Leben „gebracht“ haben. Diese sollte man sich zum Ansporn und als Vorbild für das eigene Leben nehmen. In der Klasse in der Volksschule in der ich damals war, gab es einige Schüler deren Eltern schon damals vermögend waren, die es in ihrem Leben „zu etwas gebracht haben“. Das waren die Schüler an die ich mich halten sollte. Was mir damals natürlich nicht bewusst war und ich denke mal meinen Eltern auch nicht war deren gesellschaftlicher Status und die sich daraus ergebende Distanz die zwischen den Eltern meiner Mitschüler und meinen Eltern herrschte. So lebten einige schon seit Jahren in einem der besten Wohnviertel in Frankfurt, Ein eigenes Haus, Eigentum war für sie etwas normales. Selbst der Krieg hatte daran nichts geändert. Der Lebensstandard der Eltern spiegelte sich natürlich auch im Leben der Kinder wieder. Von der Kleidung, dem Lebenstil, bis hin zu den Spielsachen sind ihre Kindern mit dem aufgewachsen das ich nur aus Zeitungsbeilagen oder aus den Auslagen der Schaufenster der Kaufhäuser auf der Zeil kannte. Die Spielsachen mit denen sie spielten, wollte ich natürlich auch gerne besitzen – haben.

Als Kind ist man nicht in der Lage zu erkennen bzw wahrzunehmen das man sich nicht über Besitz definiert. Was ich wahrgenommen habe, waren die Dinge die ich nicht hatte und war der Spaß, das Wohlfühlen der mit dem Besitz solcher Spielsachen einherging. Da ich nichts dergleichen besaß, wurde mir hier unbewußt eine Grenze aufgezeigt. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl das das ich „anders“ war. Meine Klassenkameraden aus diesem Kreis zu denen ich unbedingt gehören wollte, ließen es mich spüren das ich nicht zu ihnen gehörte. Ich fühlte mich als Person abgelehnt und ausgegrenzt. Was ich erfahren bzw gespürt habe war ein Mangel, war das mir etwas fehlte. etwas das mein „wohlfühlen“ bedingte wenn ich es besaß. Über den Zusammenhang zwischen materiellem Besitz – Nicht Besitz und Zuneigung bzw Ablehnung und den damit einhergehenden positiven wie auch negativen Gefühlen war ich mir natürlich nicht bewußt.

Dieser Mangel an Wohlgefühl, dieses nicht Teil haben an dem was Andere hatten, das Gefühl des ausgeschlossen seins und das ich mich abgelehnt fühlte, dieses Gefühl sollte mir noch des öfteren begegnen. Dieses Gefühl anders zu sein, das Gefühl das es mir an etwas mangelte hatte ich auch an jenem Tag als wir von unseren Nachbarn zum gemeinsamen Fernsehen eingeladen worden sind und ich staunend in der Küche Frau Münk beim Schnitzel braten zuschaute. Das was ich mit diesen Schnitzel fast physisch spürte war auch hier wieder das es mir an Wohlgefühl das ein Schnitzel transportierte bzw auslöste mangelte, dieses Gefühl das andere hatten – nur ich nicht.

Was mein „Anders sein“ noch verstärkte bzw mich darin bestätigte das ich anders bin, war meine damalige körperliche Konstitution. Zu diesem Zeitpunkt litt ich für mein Alter an Untergewicht. Deutschland im Express Aufzug des Wirtschaftswunder und ich hatte Untergewicht. Das sich meine Eltern dafür die Schuld gaben, das sie glaubten etwas falsch gemacht zu haben lag auf der Hand. Gutes Zureden half nichts. Also lief meine Mutter mit mir von einem Kinderarzt zum Nächsten um etwas an meinem Zustand zu ändern. Von literlöffelweisem Lebertran schlucken, bis hin zu übervollen Tellern unter Androhung von Strafe wenn ich nicht alles aufessen würde, es wurde nichts ausgelassen was eine Möglichkeit der Gewichtszunahme in Aussicht stellte.

Auf Grund meiner körperlichen Konstitution wurde ich erst an Ostern 1957 eingeschult. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern das ich an dem Tag im April 1956 meinen gleichaltrigen Freunden die auf ihrem Weg in die Schule waren nachschaute und weinend zu meiner Mutter sagte, das ich auch in die Schule will. Sie tröstete mich damit das ich nächstes Jahr in die Schule gehen werde und ich dann auch so eine Schultüte haben werde. Der Grund meiner Tränen lag nicht nur in der Tatsache das ich 1956 was den Schulbeginn betraf ein Jahr zurückgestellt wurde, sondern auch darin das ich die damals übliche mit Süßigkeiten gefüllte Schultüte unbedingt haben wollte.

Dieses Begehren, etwas „Haben zu wollen“ weil es alle haben, da ich wahrgenommen habe das es Anderen damit gut geht und ich somit des Glaubens war, das wenn ich es habe es auch mir gut gehen würde, dieses Bedürfnis trage ich letztendlich bis heute mit mir herum. Ob es sich um das Nehmen von Drogen handelte, das ich jahrelang praktiziert hatte, oder ob es sich im Kaufen von DVD´s, CD`s manifestierte, das Gefühl das mir etwas fehlt, das Gefühl des Mangels und das sich dieses Gefühl durch den Erwerb von Dingen auflösen würde, diesen Glauben trage ich schon sehr lange mit mir herum.

In den Jahren 1959/61 haben meine Eltern ihren Traum verwirklicht und ein Haus gebaut. Auf Grund der Tatsache das sie nicht über sehr viel Geld verfügten und weil sie handwerklich sehr begabt waren, haben sie viel in Eigenleistung zu der Fertigstellung ihres Hauses beigetragen. Mein Vater arbeitete damals  als Ausbildungsleiter bei den Adlerwerken in Frankfurt/Main. Meine Mutter arbeitete bis zum Beginn des Hausbaus halbtags in einem Büro während ich in dieser Zeit die letzte, die 4. Klasse der Volksschule besuchte. Meine Noten waren damals recht gut und mein damaliger Klassenlehrer Herr Seidlitz war der Meinung das ich auf Grund meiner Fähigkeiten ein Gymnasium besuchen sollte.

Das Ereignis das seine stärksten Spuren hinterlassen hat und mein späteres Leben nachhaltig beeinflußte nahm 1961/62 seinen Anfang.

Dem Rat meines Volksschullehrers folgend besuchte ich ab 1961 das neusprachliche Goethe Gymnasium in Frankfurt/Main, eine Schule die damals einen guten Ruf hatte. Zu jener Zeit war der Bau des Hauses in vollem Gang gewesen. Nachdem ich morgens zur Schule gegangen bin hat sich meine Mutter auf den Weg gemacht um alle Behördengänge die im Vorfeld das Bau eines Hauses notwendig sind zu erledigen. IdR fallen diese Aufgaben in den Verantwortungsbereich des jeweiligen Architekten der das Haus entworfen hat und für den Bau verantwortlich ist. Doch da der Architekt ein guter Freund meines Vaters war und dieser den Aspekt der Eigenleistung aus Gründen der Kostenersparnis nachvollziehen konnte, nahm sich meine Mutter dieser Aufgaben an. Da die Behörden damals wie heute nur bis 12 Uhr für das Publikum zu erreichen waren, konnte sie in der Zeit in der ich die Schulbank drückte alle notwendigen Aufgaben erledigen. Wenn ich Mittags nach Hause kam war meine Mutter ebenfalls wieder zu Hause und kam ihren „hausfraulichen Pflichten“ nach.

Dies änderte sich jedoch von dem Moment an wo mit dem Bau des Hauses begonnen wurde. Da die Arbeiten beim Bau des Hauses nicht in dem Maß voran gingen wie es sich meine Eltern vorstellten, geschah es immer häufiger das meine Mutter auf der Baustelle war um die Arbeiter zu beaufsichtigen bzw dafür zu sorgen das der Hausbau zügig von statten ging. Während der ersten Monate auf dem Gymnasium war alles soweit in Ordnung, sodas meine Eltern das Gefühl hatten wenn ich nach der Schule nach Hause kam mich für eine Weile alleine lassen zu können. Sie hielten mich für erwachsen genug das ich mir des berühmten „Ernst des Lebens“ der mit dem Besuch eines Gymnasiums beginnt und damals wie heute noch verbunden wird, bewußt sei und ich alleine und unbeaufsichtigt meinen Pflichten die Hausaufgaben zu erledigen nachkommen würde. Doch weit gefehlt.

Mit der Zeit entwickelte ich ein Gespür dafür das meine Mutter wenn sie von der Baustelle nach Hause kam erschöpft war weil sie oft beim Bau mit Hand anlegte. Von dem Moment an wo die Schule zu Ende und ich zu Hause war gab es für mich nur eines: Schultasche in die Ecke und ab in den Hof mit den anderen Kindern des Wohnblocks spielen. Kam meine Mutter dann nach Hause so war ich entweder in der Wohnung oder ich gab vor die Hausaufgaben schon erledigt zu haben. Fast alle Kinder die in diesem Wohnblock lebten gehörten einer sozialen Schicht an, zu denen zwar auch meine Eltern gehörten die aber alles unternahmen um Teil einer höhere Schicht, der Mittelschicht zu werden bzw dieser anzugehören. Bis auf unsere Nachbarn der Familie Münk hatten meine Eltern zu den übrigen Bewohnern in dem Wohnblock keinen Kontakt. Und wir – meinen Eltern und ich – waren in den Augen der übrigen Mieter „etwas besseres“. Die einen, die Menschen – die Schicht die etwas in ihrem Leben erreicht hatten und die man sich als Vorbild nehmen sollte – ließen es mich immer wieder spüren das ich nicht „zu Ihnen“ gehörte, die Anderen, die Schicht denen meine Eltern und ich angehörten, deren Kinder gingen auf Distanz zu mir weil sie, bzw deren Eltern uns unterstellten „ das wir uns für etwas besseres hielten“. In diesem Spannungsfeld wuchs ich auf. Für mich waren es aber genau die Kinder mit denen ich spielen wollte, zu denen ich mich dazugehörig fühlte. Sie durften länger aufbleiben als ich, sie spielten und tollten auf der Strasse herum während ich lernen mußte.

Im Januar 1962 holte mich der Ernst des Lebens“ ein. Ein blauer Brief des Gymnasiums an meine Eltern der besagte das meine Versetzung in die nächste Klasse gefährdet sei, setzte meinem Treiben ein jähes Ende. Merkwürdigerweise wurde diese Mitteilung von meinen Eltern recht ruhig aufgenommen. Die Atmosphäre die in unserer Familie herrschte so kommt es mir heute vor, war eher von Sorge um mich als von Vorwürfen geprägt. Was es damit auf sich hatte wurde mir dann Mitte Januar eröffnet. Der Bau des Hauses stand kurz vor der Vollendung. Einerseits sahen sich meine Eltern mit der Notwendigkeit  konfrontiert fast täglich auf der Baustelle sein zu müssen insbesondere deshalb weil es einige Probleme gab die ihre finanzielle Planung über den Haufen werfen würde, falls sie die Lösung der auftretenden Problem einer Firma übertragen, andererseits konnten sie mich auch nicht unbeaufsichtigt lassen, da ich sonst eine Klasse wiederholen müßte. So trafen sie die Entscheidung das es zu meinem Besten sei wenn ich auf ein Internat gehen würde.

Nachdem sie mir erklärten was ein Internat ist geriet meine Welt aus den Fugen. Die Erklärung meiner Eltern das sie sich für diese Maßnahme nur deshalb entschieden hatten weil sie mich liebten und sich um mich und meine Zukunft sorgen machten war für mich nicht nachvollziehbar.

Trigger

Hätte man mir vor einem Jahr geweissagt das ich meinem ehemaligen Lateinlehrer der Quarta/Untertertia der Jahre 1963/64 Kontakt aufnehmen würde, so hätte dies eher einen erstaunten Ausdruck auf meinem Gesicht hervorgerufen als ein verständnisvolles Nicken. Doch das Leben hat mitunter seine eigenen Pläne und läßt einem Wege einschlagen die einzuschlagen weniger vom Wollen als von einer inneren Notwendigkeit, vom Müssen geprägt sind. Und so wie es sich heute darstellt als stimmig herausstellt.

Ausschlaggebend war eine Sendung im Bayrischen Fersehen „Domspatzen“ die in der Zeit um den 20. Dezember 2009 Jahres gesendet wurde. Was mich in diesem Film – dieser Dokumentation besonders bewegt hat war „Marco, der wegen seines Heimwehs in Tränen ausbricht und mehrmals ans Aufhören denkt“. Marco erinnerte mich an die ersten Wochen meines Aufenthaltes im Internat im Februar 1962 an mich, an das Heimweh, dem Schmerz dem ich damals ausgeliefert war.

In den ersten Wochen meines Aufenthaltes im Internat, so die Maxime damals, hielt man es für angebracht das Schüler die neu im Internat waren die ersten Wochenenden noch nicht nach Hause fahren sollten. Dies geschah nach damaligem Erkenntnisstand aus pädagogischen Gründen. Zum einen damit man sich in die Gemeinschaft – an den Internatsalltag schneller eingewöhnen sollte, zum anderen wurde dadurch auch ein Abnabelungsprozeß von den Eltern eingeleitet dem sich jeder Mensch irgendwann einmal zu stellen hat bzw stellen sollte.

Diese ersten Wochenenden an denen ich nicht nach Hause fahren durfte, waren für mich die schlimmste Zeit gewesen. Das Heimweh das mich befallen hatte war so stark, das mich die Leiterin des Internats das ein oder andere Mal Samstags abends in der damaligen Wohnung, die sich zu dieser Zeit im 1. oder 2. Stock über dem Lehrerzimmer befand einlud, um gemeinsam am Abend Fernsehen zu schauen. Einige Samstagsabends Fernsehshows wie „Bonsoir Kathrin mit Katharine Valente und Silvio Francesco“ und „Hotel Vittoria mit Vico Torriani“, sind mir aus dieser Zeit, diesen Abenden bis heute in Erinnerung gebleben wie auch die Tafel Schokolade die mir die Leiterin bei solchen Gelegenheiten zukommen ließ. Damals konnte ich dieses Verhalten nicht einordnen. Heute so bin ich mir dessen gewahr war dies ein Ausdruck des Mitgefühls für das ich auf diesem Wege meinen Dank zum Ausdruck bringen möchte. Eine Qualität die man heute selten findet .

Mit den „Heimfahrten an den Wochenenden“  hat das Heimweh dann in seiner Intensität auch nachgelassen. Da ich zu dieser Zeit Sonntag abends immer mit dem Zug zurückfuhr, bat mich der damalige Sohn des Leiters, mein Lateinlehrer ihm hin und wieder zwei Zeitschriften mitzubringen. Eine davon war „Salus les Copain“. Auch dies war, so interpretiere ich jetzt einmal, neben „normalen sozialem Verhalten“ in der Anfangszeit auch ein Ausdruck vom Zusammengehörigkeit zu der „Internats – Familie“ so wie es Heute in den Leitlinien auch zum Ausdruck gebracht wird.

Einer der Gründe warum ich heute Kontakt aufgenommen habe, nun mit der Selbsteinschätzung bzw. Eigenwahrnehmung ist das ja so eine Sache. Nicht selten stellt man erstaunt fest das zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung Welten liegen können, zumindest jedoch kleine Gräben vorhanden sind. Zudem mit zunehmendem Alter verblast nicht nur die Erinnerung sondern vieles was in der Vergangenheit liegt präsentiert sich Heute in einem verklärten Licht.

* * *

Alles was ich verstanden habe war das mich meine Eltern nicht mehr haben wollten. Wie können sie sagen „das sie mich lieben und mich gleichzeitig weggeben“? Wenn man sein Kind liebt dann gibt man es nicht weg. Dieser Widerspruch war für mich zu dem damaligen Zeitpunkt unauflösbar.

Zwar hat die Intensität meines Heimwehs mit den „Heimfahrten an den Wochenenden“ mit der Zeit nachgelassen, doch was geblieben ist war das verstärkte Gefühl abgelehnt zu werden. war das Gefühl nicht geliebt zu sein. Als Reaktion hat sich bei mir ein Mechanismus entwickelt den ich als „Bestrafungsmechanismus“ bezeichne. Mit dem Aufenthalt im Internat haben meine Eltern Hoffnungen und Erwartungen verbunden. Zum einen die Hoffnung das ich das Abitur machen werde was nach dem Verständnis meiner Eltern mir die Möglichkeit zu einem besseren und vor allen Dingen leichteren Leben ermöglichen würde. Zum anderen das ich die in mich gesetzten Erwartungen – gute Noten und einen guten Abschluß gerecht werden würde zumal mein Aufenthalt im Internat für meine Eltern sich als ein finanzielles Opfer das ihnen in ihrer damaligen Situation schwergefallen ist darstellte.

Doch meine Reaktionen fielen anders aus als erwartet. Wenn man jemand oder etwas nicht mehr liebt dann trennt man sich von ihm, gibt man es weg. Da meine Eltern, wie ich es empfand, mich weggegeben haben liebten sie mich nicht mehr. Dafür das sie mich weggegeben haben bestrafte ich sie indem ich mich dem Lernen verweigerte und die in mich gesetzten Erwartungen, Leistungen nicht erfüllte.. Konkret bedeutete das, das ich in den Klassenarbeiten schlechte Noten geschrieben habe und über das Jahr nur das notwendigste gelernt habe. Regelmäßig stand auf den Zwischenzeugnissen der Vermerk das meine Versetzung in die nächste Klasse gefährdet sei. 3 Monate vor der Versetzung in die nächste Klasse fing ich an zu lernen, schrieb gute Noten mit dem Ergebnis das ich versetzt wurde. Dies brachte meinen Vater  jedes mal völlig aus der Fassung. „Wenn du dumm wärst,“ so sagte er dann könne er es verstehen und nachvollziehen. „Aber Du bist nicht dumm, Du bist nur stinkfaul“.

Im Jahr 1966, dem letzten Jahr meines Aufenthaltes im Internat halfen meine Anstrengungen vor der Versetzung in die 11. Klasse auch  nichts mehr. Die Klasse zu wiederholen war u.a. aus finanziellen Gründen keine Option für meine Eltern. Der einzige Weg der meinem Vater und mir offen blieb um versetzt zu werden und das Gesicht zu wahren war der das ich das Internat verlassen mußte.

Die Frage mit der ich mich jetzt konfrontiert sah, war die Frage nach einem Beruf. Im Laufe eines Gesprächs das ich mit meinem Vater führte kam dieses Thema zur Sprache. Auf seine Frage ob ich mir schon Gedanken darüber gemacht habe welchen Beruf ich erlernen möchte, antwortete ich ihm, das ich gerne einen Beruf ergreifen würde wo ich meine Gefühle zum Ausdruck bringen könnte. Das war natürlich Wasser auf seine Mühlen. „ Gefühle zum Ausdruck bringen“. „Wenn ich so ein Gefasel schon höre“. Hier, sagte er und faßte einen Stuhl, einen Tisch an. „Das ist etwas Reales, etwas greifbares. Von Gefühlen kann sich kein Mensch ernähren“.

Die Spannungen zwischen meinen Eltern, meinem Vater und mir die mit dem Besuch des Internats ihren Anfang nahmen, haben im Laufe der nächsten Jahre noch zugenommen. Sie wurden so stark, das ich 1971 in einer Nacht und Nebelaktion meinem Eltenhaus den Rücken kehrte und über einen Zeitraum von 15 Jahren keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern hatte. Erst Mitte 1990 wurde es uns wieder möglich aufeinander zu zu gehen.

Ohne zu bewerten was damals geschah, ohne meine Eltern zu verurteilen, weder emotional noch gefühlsmäßig zu reagieren, das was geschehen ohne inneren Groll mit Distanz wahrzunehmen, es war ein langer Weg bis ich in der Lage war mich diesen Episoden in meinem Leben zu stellen.

Da wir Verletzungen und Schmerzen idr als etwas „Unangenehmes“ als etwas das wir nicht „haben wollen“ bewerten bzw interpretieren, bemühen wir uns das wir in der Zukunft ähnliche Situationen vermeiden. Zudem entwickeln wir Mechanismen die verhindern das wir Situationen die zu Verletzungen führten nicht reflektieren. Wir verdrängen, verschließen uns oftmals dieser Reflektion und hoffen, das wir „Verletzungen per se“ nicht mehr erfahren werden, wundern uns aber wenn wir feststellen das wir uns schon wieder in einer ähnlichen Situation befinden wie damals. Bildlich gesprochen haben wir frühere Situationen i.e. den Weg der zu einer Verletzung führte und der Verletzung selbst begraben. Wenn man zudem noch in eine Abhängigkeit gerät so errichtet man über die „begrabene Episode der Verletzung“  zusätzlich noch einen Berg. Diesen zusätzlichen Berg abzutragen um die begrabene Episode freizulegen um sich dieser Episode bewußt zu stellen, dazu bedarf es der Arbeit, Klarheit, Bereitschaft, Mut und Zeit. Die Erlebnisse und Erfahrungen die wir in unserer Kindheit und Jugend erlebt haben, haben uns geprägt und uns zu denjenigen gemacht die wir heute sind. Wenn wir nicht immer wieder die gleichen Fehler machen wollen dann müssen wir lernen unser Verhalten zu ändern. Wir können nicht immer wieder die gleichen Fehler machen und andere Ergebnisse erwarten.

© Wolfgang Kirsch

Eine Antwort zu Chronik

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