. . . war eine Last an der ich lange zu beißen hatte, unter der ich lange gelitten und die ich in meinem Rucksack lange mit mir herumgeschleppt habe.
1994 im Mai in einer Entzugsklinik in der ich meinen Drogenentzug machte, begegnete mir zum ersten Mal eine Selbsthilfegruppe. Von dem was die Typen da erzählten habe ich kaum was verstanden. Eine Sache jedoch hat mir völlig den Draht rausgehauen.
„WAU, dachte ich , es gibt Menschen die mal Drogen genommen haben und die Heute clean sind. Das gibts doch gar nicht“.
Bis zu diesem Zeitpunkt wußte ich nicht das es Menschen gibt die ein drogenfreies Leben führten und, ehrlich gesagt, ich konnt es mir bis zu diesem Moment auch nicht vorstellen. Wie auch. Alles was ich kannte waren Drogen. Die Menschen mit denen ich zu tun hatte waren Menschen die Drogen genommen hatten wie ich. Mein ganzes Leben drehte sich bis zum 27. Mai 1994 nur um Drogen und alles was damit zu tun hatte.
Einer von ihnen erzählte was von Sponsorschaft. Ich verstand nur die Hälfte von dem was er da erzählte. Doch irgendwie wußte ich intuitiv das da ne Menge wahres dran ist von dem was er erzählte. Der Typ war mir sofort irgendwie sympathisch. In diesem Moment habe ich zu mir gesagt: „Der Typ wird mein Sponsor“. Und da die Gruppe aus Darmstadt kam habe ich in diesem Moment noch ne Entscheidung getroffen das ich nach Darmstadt ziehen werde und in die Meetings dort gehe. Genau das ist dann auch passiert. Aus der Entzugsklinik habe ich mir mit Hilfe dieses Typen, meines späteren Sponsors, eine Wohnung gesucht und hab mich nach 4 Wochen aus der Klinik nach Darmstadt entlassen.
So bin ich zu einer Selbsthilfegruppe gekommen. Während der ersten Jahre ging ich regelmäßig 2 – 3 mal, manchmal auch öfters in der Woche in die Meetings in Darmstadt und Frankfurt. Und ich hab, wie sich das nun mal für n guten Süchtigen gehört angefangen in dem Programm, die 12 Schritten zu arbeiten. Das war die Basis für mein Clean bleiben bis Heute. Clean und Frei von den Drogen die mich in die Sucht mit all ihren Schrecken führte.
Da Alkohol nie die Droge meiner Wahl war ist es mir heute möglich ab und an max ein kleines Gläschen Bier zu genießen und hin und wieder mit Alkohol zu kochen. Ich bin mir der Tatsache bewußt das die meisten Selbsthilfegruppen dies anders sehen. Bis heute funktioniert meine Sichtweise, ist meine Sichtweise stimmig für mich. Kann sein das ich in 10 Jahren oder so meine Meinung, Sichtweise änder oder auch nicht.
Ich lebte schon einige Jahre in Darmstadt als mir bewußt wurde, das mein Umzug nach Darmstadt noch andere Gründe hatte. Da meiner Mutter nach meiner Geburt ein Tumor aus dem Gehirn entfernt wurde, das war 1950, und sie immer mal wieder als Folge der TumorOperation für längere Zeit krank wurde und in eine Klinik mußte, lebte ich lange Zeit bei meinen Großeltern hier um die Ecke, ca. 30 Kilometer von Darmstadt entfernt.
Später als ich dann zur Schule ging, verbrachte ich die Sommerferien immer bei Ihnen. Die Zeit die ich bei meinen Großeltern lebte war eine der schönsten Zeiten in meinem Leben. Die Schwester meiner Mutter lebte im gleichen Dorf wie meine Großeltern. Sie hatte einen großen Bauernhof auf denen ich und andere Kinder aus dem Dorf mit denen ich befreundet war herumtollte und spielte. Im Sommer wenn wir auf die Felder zum Heu machen gefahren sind, gab es für mich nichts schöneres als oben auf dem Heu im Wagen zu sitzen und die Welt von oben zu betrachten. Die Zeit die ich als Kind bei meinen Großeltern verbrachte war die glücklichste Zeit in meinem Leben.
Abends wenn ich vom Spielen auf den Feldern oder den Höfen der Nachbarskinder nach Hause kam, gab s all die Köstlichkeiten zu essen die ich mir gewünscht habe. Mein Großvater war Schreiner, der bei der Bahn in einem Ausbesserungswerk arbeitete. Der Verdienst zu dieser Zeit war sehr gering. Da meine Großeltern auf dem Land lebten lag es auf der Hand, das sie das was sie zum Leben brauchten selbst anzubauen und sich so selbst versorgten. Sie hatten Hühner, Hasen, zwei Gänse und hielten sich ein Schwein das im Spätherbst geschlachtet wurde. Von ihrer zweiten Tochter, der Schwester meiner Mutter, die im gleichen Dorf lebte bekamen sie Milch. Gemüse, Kartoffeln, Obst, bauten sie selbst an. Das was man im Herbst geerntet hat wurde, da sie sich damals in den 50ger Jahren keinen Kühlschrank leisten konnten, eingekocht bzw im Keller ihres Hauses der selbst im Sommer kühl war gelagert. Mein Großvater kellterte Säfte und machte Obstweine selbst, sodaß sie bis auf das Wenige das sie kauften alles hatten was sie zum Leben benötigten.
Beide meine Großmutter und mein Großvater mußten hart arbeiteten. Ihr Leben war alles andere als leicht oder einfach. Wenn es Abend war, waren beide von ihrer Arbeit erschöpft. Meine Großmutter von der Arbeit im Garten und den Feldern, mein Großvater von seiner Arbeit als Schreiner bei der Bahn. In der Küche hatte er seinen Stammplatz auf dem er oft nach dem wir zusammen Abendbrot gegessen haben eingeschlafen ist. Über ihm auf einer Art Regal das er selbst gebaut hatte das Radio, den Ellenbogen des rechten Armes auf dem Küchentisch und den Kopf in die rechte Hand gelegt. So saß er nach dem Essen auf seinem Stuhl am Küchentisch und schlief.
Egal was es zum Essen gab, alles war köstlich. Ob es Geröste und Dickmilch war, LatwergeBrot oder Brot mit hausgemachter Wurst, der billige, stinkige Limburger oder die Reissuppe meiner Großmutter die unübertrefflich war. Ich kam mir vor wie im Schlaraffenland.
Meine Großeltern waren Menschen die ich über alles liebte. Ich kann mich nicht erinnern das ich jemals ein böses Wort von ihnen gehört hatte. Es gab nie eine Situation wo sie auf auf Grund dessen was ich machte mir gegenüber ernsthaft böse gewesen waren. Nie waren sie wütend. Nie habe ich eine Ohrfeige bekommen. Es gab keine Verbote wie „Wir wollen nicht das Du mit diesen Kindern spielst oder ähnliches“. Es war ein hamonisches Leben mit und bei Ihnen. Manchmal wurde ich ausgeschimpft wenn ich zu spät zum Essen kam aber das war auch alles. Ich konnte alles machen was ich wollte. Es gab nie Streß wie man heute so sagt. „Es wird Zeit das unser Sohn wieder nach Hause kommt“, sagte mein Vater immer mal wieder wenn er mich gegen Ende der Ferien abholte. „Der Bub wird ja sonst noch völlig verzogen“.
Bei meinen Großeltern fühlte ich mich geborgen und geliebt. Ich wurde so angenommen wie ich war. Sie waren immer für mich da wenn ich sie brauchte.
Es war 1971 als ich in einer Nacht und Nebelaktion Head over Heels mein Elternhaus verließ. Zu dieser Zeit hatte ich angefangen Haschisch zu rauchen. Es dauerte nicht lange und ich fing ich an harte Drogen zu nehmen. Während der nächsten 15 Jahre hatte ich keinen Kontakt zu meinen Eltern. Null. NADA. 1974 und 1976 sind meine Großeltern gestorben. Das habe ich erst erfahren nachdem ich 1986 wieder Kontakt zu meinen Eltern aufgenommen habe.
Zwar lebte ich von da an wieder in Ihrem Hause, hatte meine eigene Wohnung und ging wieder in meinem Beruf als Bankkaufmann arbeiten doch ich nahm weiterhin „kontrolliert“ Drogen. So konnte ich den Schein das ich ein „normales Leben“ führte nach außen hin aufrecht erhalten. Meine Eltern verdrängten die Tatsache, das ich Drogen nahm da ich in ihren Augen wieder ein „geregeltes Leben“ führte. Sie hofften bzw sagten sich das ich es irgendwann schaffen werde mit diesem „Zeug“ aufzuhören.
Und ich, da ich immer noch Drogen nahm, verdrängte meine Vergangenheit, blendete mein Leben aus. Dies änderte sich mit dem 28. Mai 1994, der erste Tag an dem ich keine harten Drogen nahm. Durch die Meetings, durch und mit Unterstützung meines Sponsors, durch das Einlassen auf die Schritte fand ich nach und nach zu mir selbst. Es gelang mir clean zu bleiben.
Jetzt erst wurde mir so langsam bewußt was ich meinen Großeltern „angetan“ habe. Sie die immer für mich da waren wenn ich sie brauchte, sie habe ich im Stich gelassen als sie mich brauchten. Wenn ich krank war, waren sie bei mir. Sie die mich in Schutz nahmen wenn es nötig war, die mich pflegten und sich um mich kümmerten wenn ich krank war, die sich um mich Sorgen machte, sie habe ich im Stich gelassen. Sie die mir ihre Liebe schenkten, von denen ich mich geliebt, angenommen und geborgen fühlte, sie habe ich alleine gelassen als sie mich brauchten. Als sie krank waren war ich nicht bei ihnen. Als sie im Sterben lagen war ich nicht bei ihnen. Als sie starben war ich nicht bei Ihnen. Auf ihrer Beerdigung war ich nicht anwesend.
In dieser Zeit nicht bei ihnen gewesen zu sein, bei den beiden Menschen die mich geliebt und alles für mich getan haben, nicht an ihrem Bett bei ihnen gewesen zu sein als sie krank waren und im Sterben lagen, das war für mich das schlimmste was ich getan habe, was ich ihnen angetan habe.
„Schuldig“. Ich fühlte mich „schuldig“ wie niemals zuvor in meinem Leben.
In den folgenden Jahren bin ich des öfteren am Grab meiner Großeltern gewesen. Mal im Sommer, mal an ihrem Todestag oder im November. Ich erzählte Ihnen von meinem Leben das ich in diesen Jahren führte.
Ganz langsam konnte ich mir eingestehen das es mir nicht möglich war bei ihnen zu sein weil ich in dieser Zeit Drogenabhängig war. Über Jahre hatte ich jeglichen Kontakt zu meiner Familie abgebrochen. In dieser Zeit gab es für mich keine andere Person als „ (M)ICH“ und nichts anderes als Drogen nehmen. Andere Menschen, meine Eltern, meinen Großeltern, sie waren mir völlig egal. Letztendlich war ICH mir völlig egal. Nach und nach wurde mir bewußt was es heißt „ein Süchtiger“ zu sein, was Sucht mit einem macht.
Nach und nach wurde es mir möglich meine Großeltern für das was ich ihnen angetan habe um Verzeihung zu bitten. Mit der Zeit wurde das Gewicht das auf mir lastete leichter. Die „Schuld“, dieses „mich schuldig fühlen“ verlor an Intensität und ich konnte wieder durchatmen.
Ich wurde mir gewahr was ich mir selbst angetan habe. Ich wurde mir gewahr das ich meinem Körper, Geist und meiner Seele Schaden zufügte. Mir wurde klar was es heißt das „Sucht eine Krankheit ist“ und das Sucht keine Frage von „Schuld“ oder „nicht Schuld“ ist. Und langsam sah ich mich in die Lage versetzt mir selbst, für das was ich mir angetan habe, zu verzeihen. Das war für mich eine befreiende Erfahrung. Eine Erfahrung für die ich dankbar bin das ich sie machen durfte.
Mit der Zeit wurde mir klar das ich deshalb nach Darmstadt gezogen bin weil es in meinem Leben einen Kreis gab der noch offen war und der geschlossen werden sollte.
Ein Abschnitt in meinem Leben der noch nicht abgeschlossen war und der geschlossen werden mußte. Mittlerweile ist dieser Kreis geschlossen. Nur wenn ein Kreis geschlossen, ein Abschnitt im Leben abgeschlossen ist, ist man bereit sich auf Neues einzulassen.
Alles was mir auf der Seele lag was die Beziehung zwischen meinen Großeltern und mir betrifft. alles was noch „offen“ war, all das ist heute „geschlossen“. Ich habe nicht mehr das Gefühl das es Unerledigtes und Ungesagtes gibt. Ich fühle mich nicht mehr schuldig. „Schuld“ hat heute keine Macht mehr über mich.
Mai 2014
64 – 30 – 20
Das ich mal 64 Jahre alt werden könnt, mit 30 Jahren HIV auf Buckel hätt ich mir niemals nich träumen lassen; ganz zu schweigen davon das ich es jemals schaffen würde – seit 20 Jahren – ein Leben ohne Drogen zu führen . . .
Da sach ich nur : Auf die nächsten 10 Jahre . . . . 😉
November 2018
Beim Lesen des letzten Satzes „Auf die nächsten 10 Jahre . . . “ konstatiere ich: „Alter, da warste echt tollkühn :)“.
Heute, es ist der 23. November 2018, ich bin 68, und lebe in einem Pflegeheim. Wenn ich an mein Leben, besonders die Jahre ab 1984 zurückschaue, wird mir mein Herz schwer. Schwermut senkt sich über mich. Zum einen wenn ich an Maria denke, zum Anderen wenn ich mir gewahr werde was ich aus meinem Leben gemacht habe. Das Leben in all seiner Vielfalt war mir auf Grund meiner Abhängigkeit nicht möglich zu leben. Drogen sind – waren – für mich eine Art von Mauern links und rechts eingrenzende Strasse, auf der ich unterwegs war.
Heute lebe und trage ich die Konsequenzen dieses, meines Lebens. Dessen bin ich mir gewahr. In einem Pflegeheim. Mein Motto heute: „Selbstbewußt und Eigenverantwortlich im Bewußtsein das ich Hilfe benötige und dies in der Lage bin zu artikulieren leben und Eigenverantwortlich zu sterben. Bei letzterem schrillen allerdings die Alarmklocken beim Pflegepersonal. Das ist allerdings nicht mein Problem. Das ist das Problem des Pflegepersonal. Eines jeden Einzelnen von Ihnen.
Bernd Aretz hatte recht als er u.a. sagte: „Trefft kluge Entscheidungen“.
© Wolfgang Kirsch