Sie sind Positiv . . .

Im Dezember 1985 teilte mir der Arzt der JVA Kleve ohne weitere Erläuterung mit, daß das Ergebnis meiner  HIV Untersuchung positiv ausgefallen ist.

„Prima“ dachte ich. „Das Ergebnis ist positiv, also ist alles in Ordnung mit mir. Ich bin gesund.“

Einen Monat später, ich befand mich mittlerweile in der Untersuchungshaftanstalt Preungesheim bei Frankfurt/Main, klärte mich die dortige Ärztin darüber auf, was es heißt HIV positiv zu sein.

Die folgenden 5 Tage waren die schmerzvollsten und – im nachhinein betrachtet – die fruchtbarsten Tage in meinem Leben. Als ich wieder in meiner Einzelzelle war, flippte ich total aus. Für  mich stand fest, das ich sterben würde; „Spätestens in drei Jahren bin ich tot“. 1986 wußte man noch nicht viel über HIV und AIDS und außer AZT gab es keine Medikamente. Die Überlebenszeit, die die Ärzte einem HIV Infizierten damals gaben, waren maximal 3 Jahre. In diesen 5 Tagen wurde ich mir meiner Sterblichkeit, meiner Endlichkeit bewußt. In diesen 5 Tagen habe ich die damals für mich wesentlichen Eindrücke, die ich in Amsterdam, in einer Psychiatrie bei Kleve und in der U – Haftanstalt in Preungesheim bei Frankfurt erlebte, in Gedichtform niedergeschrieben.

Tja und hier (2009) sitz ich nun vorm PeCe und lebe dank einer greifenden 3 er Kombi immer noch. Das ich mal 59 Jahre alt werden könnte – würde das hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht zu träumen gewagt.

*

Medizinisches Wissen über HIV war 1986 kaum vorhanden. Man konnte weder die Viruslast bestimmen noch war man sich über die Übertragungswege in klaren. Die Unwissenheit unter Medizinern, staatlichen Stellen und Betroffenen war gleich groß. In der Bevölkerung herrschte Angst und sie wurde von den Medien kräftig geschürt. Staat und Kirche, Politik und Medizin überboten sich gegenseitig in den Horrorszenarien. Man erwog z. B. ernsthaft alle HIV Infizierten zu isolieren.

Tag 1

Heute habe ich soweit Klarheit darüber bekommen soweit es dem bisherigen Stand der Medizin möglich ist. Eine Blutsenkung hat ergeben, daß sich in meinem Körper kein Krankheitsherd befindet. Ein Immunabwehrtest ergab, daß auch von daher keine unmittelbare Bedrohung ausgeht.
Ich erfuhr, daß der Virus die weißen Blutkörper angreift und zerstört und damit das Immunsystem schwächt.
Somit bin ich wie eine lebende Zeitbombe die tickt, von der ich aber nicht weiß wann sie hochgeht. Der Virus befindet sich hauptsächlich im Blut und Sperma. Die häufigste Art der Infizierung anderer kommt durch Sperma zustande. Damit ergibt sich für mich, das ich mein Leben von Grund auf ändern muß. Das heißt daß ich, solange kein Medikament gefunden wurde, ohne Kondom mit einer Frau nicht schlafen darf. Scheiße. Wie ich das auf die Dauer auf die Reihe kriegen soll, weiß ich nicht.

Welche Folgen es für die Arbeit hat, vermag ich heute noch nicht zu sagen, da ich noch zu wenig über die Krankheit weiß und es auch darauf ankommt inwieweit und wen ich darüber informieren muß. Ernährungsmäßig muß ich mich umstellen. Keine Drogen, das ist klar. Keinen Alkohol, darin sehe ich kein Problem obwohl ich mich wenn ich rauskomme betrinken werde. Ich brauche im Moment ein Ventil wo ich den angesammelten Druck ablassen kann. Das Rauchen aufzugeben wird wie ich merke schwieriger für mich werden als ich mir vorgestellt habe.

Ich hoffe, daß sich das Verhältnis zu meinen Eltern ändern wird. Nicht auf Grund der Krankheit sondern weil ich, bevor ich davon Kenntnis hatte, schon den ersten Schritt getan habe. So hoffe ich jedenfalls. Solange ich hier bin werde ich ihnen, falls sie kommen, nichts sagen. Entweder es regelt sich so wie ich weiß das es sein kann, oder, ja trotzdem werde ich es ihnen irgendwann sagen müssen. Ich hoffe nur, daß sie sich mir nicht  verpflichtet fühlen.

Mein Verhältnis zu Maria ist ein völlig anderes geworden Nicht das ich sie nicht mehr liebe, ich hoffe nur, daß sie weiß was sie zu tun hat. Aber darüber mir jetzt den Kopf zu zerbrechen hat wenig Sinn.

Gestern noch
war diese Krankheit
nicht mehr
als eine Schlagzeile für mich.

Heute
bin ich selbst einer der Betroffenen.

Nach dem ersten Schrecken
überlegte ich mir
was ich tun muß.

Soviel weiß ich:
Angst,
Unwissenheit
und Gleichgültigkeit
sind unsere schlimmsten Feinde.

Tag 2

Heute war ich wieder bei der Ärztin. Sie teilte mir mit, daß die Lymphdrüsen – untersuchung negativ ausgefallen ist. Daß heißt keine Anzeichen einer Krankheit. Der Abwehrtest auf einige Krankheiten bezogen ist auch Negativ ausgefallen. Somit sind alle Untersuchungen abgeschlossen. Sie riet mir, mich alle 3 Monate untersuchen zu lassen. Der Virus als solcher ist bis zu 12 Wochen an Hand der Antikörper im Körper festzustellen. Danach nur noch an Hand von Reaktionen bzw. überhaupt nicht mehr. Jeder banale Schnupfen oder Grippe, jede offene Wunde kann den Tiger in mir zu einer tödlichen Bestie werden lassen. Das wichtigste, so sagte mir die Ärztin ist normal weiter zu leben und jeden Streß zu vermeiden. Ebenso intensive Sonnenbestrahlung. Na ja, ich war bis jetzt nie in Spanien, warum sollte ich also jetzt hinfahren. Drogen, Alkohol, Nikotin sind tabu.
Was mir Sorgen macht ist Maria. Ich habe während der letzten Woche über den psychologischen Dienst versucht sie anrufen zu lassen. Ohne Erfolg. Hoffentlich hat mein Anwalt ihr geschrieben und ihr mitgeteilt was mit mir los ist. Jeder Tag ist überlebens wichtig für sie. Wie gerne wäre ich jetzt bei ihr um ihr in dieser Zeit beizustehen. Das ist das Schlimmste hier. Hilflosigkeit. Für mich heißt es jetzt abwarten ohne in Angst zu verfallen. Wie lange, weiß ich nicht. Ich werde damit leben. Ich werde den Kampf, . . . nein, ich habe ihn schon aufgenommen.

Meine Angst ist von mir genommen. Was geblieben ist, ist Schmerz und die Erkenntnis darüber, daß ich die letzten 15 Jahre meines Lebens weggeworfen habe. Weggeworfen wenn ich der Tatsache ins Auge schaue, daß ich ohne materiellen Hintergrund dastehe wo ich ihn jetzt am meisten nötig habe, ja brauche, da alles vom Geld abhängt. Wie kann ich mich ausgewogen ernähren ohne Geld, Ärzte, Wohnung? Ich weiß es nicht. Meine Eltern in ihrem Alter damit zu belasten erscheint mir von Tag zu Tag ungeheuerlicher. Ich habe nichts als Schmerz über sie gebracht und wie es aussieht nimmt der Kummer kein Ende. Vor zwei Wochen schrieb ich an meinen Vater ob wir Freunde sein könnten. Und jetzt diese Situation. Für jeden Menschen muß es eine Zumutung sein. Bin ich wirklich ein Egoist? 15 Jahre habe ich meine Eltern nicht gebraucht und jetzt, nur weil ich den Virus habe, was ich mir selbstverständlich selbst zu zuschreiben habe, jetzt brauche ich sie auf einmal? Ich bin aus freiem Willen da hinein geraten, also muß ich mich auch aus eigener Kraft befreien und so leben wie es jetzt für mich notwendig ist ohne auf Verständnisvolle Hilfe anderer zu hoffen. Würde ich das tun, so würde ich meine Eltern ausnützen.

Der Sturm ist vorüber,
die Angst gewichen.

Zurück bleibt
eine Bedrohung
gleich einem schlafenden Tiger,
der,
wenn er geweckt wird,
zu einer reißenden Bestie wird.

Mit dem unvermeidlichen leben wir
vom Tag unserer Geburt an.

Und trotzdem ist es anders.
Oder?

Wir sehen
wie klein wir sind.

Und trotzdem,
oder
gerade deshalb
können wir Größe und Stärke besitzen,
vorausgesetzt
wir begehen nicht immer wieder die gleichen Fehler
und verschließen unsere Augen nicht
vor der Wahrheit.

Tag 3

Frankfurter Rundschau Januar/Februar 1986 – Aids Viren: Im Speichel selten

Die Gefahr, daß Aids Viren, beispielsweise beim Küssen, über den Speichel ausgetauscht werden, ist „wahrscheinlich ziemlich gering“. Zu diesem Schluß sind gleichlautend jetzt zwei amerikanische Studien gekommen. Ärzte am Massachusetts General Hospital hatten insgesamt 83 Speichel Proben von 71 Aids positiven Homosexuellen auf Zellkulturen gebracht. Nur in einem einzigen Fall gelang es dabei, das Aids – Virus nachzuweisen. Mediziner aus North Carolina führten über neun Monate Tests mit zwei Krankenschwestern durch, die einen schwer Aids kranken Patienten von Mund zu Mund beatmet hatten. Ergebnis: Die Krankenschwestern hatten sich bei der Rettungsaktion nicht angesteckt. Wenn Aids Viren in größerem Maße über den Speichel ausgetauscht würden, folgern die Wissenschaftler, „müßte man eine weit höhere Ansteckungsrate beim Betreuungspersonal erwarten“.

Wenn sich dieses Ergebnis noch von anderen Forschern bestätigen lassen sollte, so wäre man einen großen Schritt in der Forschung als auch in psychologischer Hinsicht weitergekommen. Man darf nicht vergessen, das jede Krankheit zwei Aspekte hat: Den medizinischen und den seelischen. Ich wage nicht zu sagen welcher die größere Bedeutung hat. Sie sind beide untrennbar.

Deshalb hoffe ich nur, das niemand wegen dieses Artikels in Euphorie verfällt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es verfrüht. Falls es sich jedoch bewahrheiten sollte, ist das die beste Nachricht seit langem. Ich kann mir vorstellen das viele der Betroffenen sehr darunter leiden in der Annahme keine Zärtlichkeiten mehr austauschen zu können. Männer und Frauen wird auf einmal das Zölibat aufgelegt. Der seelische Druck um die Bewältigung dieses Problems, ist, kann so groß werden, daß extreme Sorglosigkeit, Gleichgültigkeit ihrer Infektion gegenüber und somit falsches Verhalten entstehen kann. Die Folgen, die als Konsequenz von stattlicher Seite daraus resultieren können, dürften für alle erschreckend sein.

Wie ich das Problem der Zärtlichkeit für mich bewältigen werde, weiß ich nicht. Ich hoffe nur, das es zu keiner Untergangsstimmung kommen wird.


Nie mehr
mit einer Frau
mit einem Mann
schlafen können.

Nie mehr
Zärtlichkeiten austauschen.

Zu verschmelzen,
eins zu werden.

Nie mehr.
Diese zwei Worte
lassen mich verzweifeln.

Mir vorzustellen
nicht mehr zu lieben,
geliebt zu werden
ist unvorstellbar für mich.

Tag 4

Heute war der Psychologe bei mir. Ich glaube sagen zu können, daß ich alle zur Zeit verfügbaren Informationen über Aids besitze. Über den Antikörper hat man den Virus festgestellt. Er selbst ist nicht feststellbar. Zur Zeit noch nicht. Ein Krankheitsherd ist ebenfalls nicht vorhanden.

Bei vernünftiger Lebensweise muß es nicht zum Ausbruch der Krankheit Aids kommen. Vernünftige Lebensweise heißt konkret für mich meine bisherige Lebensweise abzulegen. Keine Drogen zu nehmen, den Personenkreis, der sich um die Drogen zwangsläufig aufbaut zu meiden. Ausgewogene Ernährung bedeutet vitaminreiche Nahrung zu mir zu nehmen. Obst, frisches Gemüse – nicht zerkocht – und Milchprodukte helfen einem Abbau des Immunsystems zu verhindern. Aufklärungspflicht gegenüber Arzt und Zahnarzt sind selbstverständlich. Ferner ist es auch klar, das ich meine Partnerin darüber informieren muß. Solange ich ein soziales Verhalten an den Tag lege, besteht keine Gefahr. Das heißt, daß ich bei Verkehr ein Kondom benutzen muß. Eine Übertragung durch Speichel oder Schweiß ist unwahrscheinlich.

Für mich bleibt die Frage offen, inwieweit die Wahrscheinlichkeit auf einer Bananenschale auszurutschen und sich den Hals zu brechen in Relation zur Übertragbarkeit durch Speichel oder Schweiß besteht. Das Problem bleibt immer die Verständnisbereitschaft des Partners. Ansonsten: Arbeit. Normales Verhalten also.

Wie es mit Maria weitergehen wird weiß ich nicht. Hoffentlich geht sie zu einem Arzt. Jeder Tag ist wertvoll.

 

Tag 5

Es mag paradox klingen, aber die Nachricht der Ärztin hat bei mir  bewirkt, daß ich mich heute zum ersten Mal seit 5 Tagen gut, erleichtert fühle. Nicht in dem Sinne, „ Na ja, es ist ja gar nicht so schlimm wie man immer meint“, nein, ich glaube es ist Erleichterung darüber, daß die Tests alle so gut ausgegangen sind. Daß heißt, das ich zur Zeit gesund bin. Wie lange das sein wird, weiß ich nicht, weiß niemand. Ich freue mich, daß ich mich noch freuen kann, daß ich lachen kann.

Ich denke, daß ist das Wesentliche. Lebe jeden Tag als wäre es der letzte Tag. Darüber hinaus bin ich mir klaren, das auf die hellen, sonnigen Tage dunkle mit Wolken verhangene Tage folgen werden.

Was mich jedesmal wenn ich unten bin wieder hochkommen läßt, ist Rockmusik. Das Gefühl des Lebens in dieser Musik läßt einem keine andere Wahl. So viele Gruppen es auch geben mag, die meisten haben eines gemeinsam: Das Leben oder den Walk of Life zum Ausdruck zu bringen. Welch ein Zusammenhang. AIDS und Rock. Ich sehe einen.
Sind wir, die wir davon betroffen sind dadurch schon automatisch tot? Wir leben wie jeder und alle um uns herum. Diejenigen, die ins Grübeln, in Angst verfallen, sind es entweder nur auf Grund von falschen oder fehlenden Informationen und Berichten oder deshalb weil sie alles andere als positiv sind. Wir werden durch negative Berichterstattung automatisch zu Außenseitern gemacht und es ist sehr schwer sich aus dieser Ecke heraus zu kämpfen. Ich sehe, das es vor allem darum geht die Öffentlichkeit aufzuklären. Nicht Schrecken zu verbreiten der sich in beiden Seiten manifestiert: Die Einen wollen nichts mit denen zu tun haben, die Anderen werden in ihrer Hoffnungslosigkeit nur bestätigt. Die Angst, die bei vielen aufkommt, liegt in Unwissenheit und in mangelnder, bzw. falscher Information. Da gibt es einiges zu tun. Anstelle von Geißel der Menschheit zu sprechen und mit Zahlen aufzuwarten die das bestätigen, sollte man die Energie dazu verwenden um die Betroffenen selbst zu hören. Sie sind die Experten. Ihre Ängste und Gefühle sind real. Nur wenn wir von ihnen wissen können wir etwas gemeinsam verändern. Es wird soviel von Veränderung gesprochen, das der Inhalt und die Benutzung dieses Wortes einer Vergewaltigung gleichkommt.


Worte
sind wie Pfeile.

Einmal losgelassen
sind sie nicht mehr aufzuhalten.

Sie treffen dich,
verletzen dich,
schmeicheln dir,
beruhigen dich,
belügen dich,
wühlen dich auf.

Häufig
mißbrauchen wir sie.

Wir haben vergessen
was sie  bedeuten
und geben ihnen andere Inhalte.

So werden Worte banal
und leer.

Genauso wie wir.

Another Interesting Day Starts


Dieses Bild hat eine Freundin in New York gemalt die Anfang der 90 Jahre gestorben ist.  Die Sichtweise, die in dieser Definition von AIDS, die ich zum ersten Mal Mitte der 90 Jahre hörte, zum Ausdruck kam hat bis heute nichts von seiner Faszination für mich verloren.

© Wolfgang Kirsch

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