August 1996
Der erste Schultag – wie sich das anhört. Mit dem heutigen Tag fängt die Ausbildung zum Erzieher an. 3 Jahre wird sie dauern – 2 Jahre Schule, 1 Jahr Berufspraktikum. Ob es der Traumjob ist, wird sich im Laufe der Zeit noch rausstellen. Auf alle Fälle ist es das, was ich mir schon lange gewünscht habe. Mit Kinder und für Kinder da zu sein.
September 1996
Bin krank, fühle mich Hundeelend und komme kaum aus dem Bett raus. Werde morgen zum Arzt gehen.
Donnerstag, 19. September 1996
Dunkles Zimmer, Joghurt, Trinken und Schlafen – das ist alles was ich will. Habe die AHD angerufen und sie gebeten, mir meinen Hausarzt vorbeizuschicken. Wenn ich ihn anrufe, dann glaubt er es nicht, das es mir so mies geht, das ich nicht in die Praxis kommen kann. Rückruf vom Doc am Nachmittag, das er am Freitag vorbeikommt.
Freitag, 20 September 1996
Habe 5 mal in der Nacht die T-Shirts gewechselt. Waren durch und durch naß geschwitzt. Am Nachmittag kam der Arzt. Nach einer oberflächlichen Untersuchung – er hatte sich angehört wie ich mich fühle – diagnostizierte er eine Grippe. „Am Montag bist Du wieder fit und kannst rumlaufen wie ein junger Gott“.
Samstag 21. September 1996
Am morgen Fieber gemessen – 39,5. Dann alle 2 – 3 Stunden. Zwischendurch war ich irgendwie völlig weggewesen. Irgendwann abends habe ich den ärztlichen Notdienst angerufen. Spät abends kam ein Arzt, untersuchte mich und stellte eine Lungenentzündung fest. Er hat mir ein Antibiotika verschrieben. „Wenn es am Montag nicht besser geworden ist, dann müssen sie ins Krankenhaus“.
Sonntag, 22. September 1996
Zwischen 39,5 und 40 Fieber. Schlafen und trinken, Ruhe und keine Alpträume in der Nacht, das ist alles was ich möchte.
Montag 23. September 1996.
Bin mit dem Taxi ins Alice Eleonore Hospital gefahren. Als mich mein Hausarzt gesehen hat, hat er mich sofort auf seine Station geschickt. Die Röntgenaufnahme der Lunge ergab eine 40 % Lungenentzündung – beidseitig. Nach 1 ½ Stunden lag ich im Bett, 1 Stunde später hing ich am Tropf.
Am folgenden Tag war Dr. X, der Arzt, der mich Freitags zu Hause besuchte und eine leichte Grippe diagnostizierte bei der Visite dabei. Er hat kein Wort gesagt. War auch besser so. Wir haben uns nur angesehen und wußten beide, was er für einen Bock geschossen hatte.
Die nächsten Tage sind irgendwie unbemerkt an mir vorbeigegangen. Antibiotika, Electrolyt und Intraglobulininfusionen während der nächsten 8 Tage.
Dienstag, 1. Oktober 1996
Die Infusionen werden abgesetzt. Ich bin so schwach, das ich es gerade mal auf die Toilette schaffe. Ne Flasche Wasser zu tragen ist so wie als wenn ich nen Tag Kohlesäcke geschleppt hätte. Ich hätte nie gedacht, das man so schwach sein kann. Bei einer der folgenden Röntgenaufnahmen sagte mir mein behandelnder Arzt, das es höchste Zeit gewesen sei, als ich ins Krankenhaus kam. Er sagte mir, das er sich auch ganz schön mies fühlt, das sein Kollege so vorbeidiagnostiziert hatte.
* * *
Januar 1997 – März 1998
Im August 1996 habe ich im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme mit einer Ausbildung zum Erzieher angefangen. Meine Werte waren, wie all die Jahre zuvor im „grünen Bereich“. Ende September des gleichen Jahres änderte sich das schlagartig. Ohne Vorankündigung, buchstäblich aus heiterem Himmel bekam ich eine PcP – Pneumocystis-carinii-Pneumonie – eine Lungenentzündung durch den Pilz Pneumocystis jiroveci ausgelöst, eine der häufigsten opportunistischen Infektionen und AIDS-definierenden Erkrankungen.
Ich weiß es noch wie heute. Es war an einem Donnerstag, als ich im Unterricht saß und auf einmal das Gefühl hatte, das alle Kraft und Energie aus mir herausliefen, so wie man den Stöpsel aus einer mit Wasser gefüllten Badewanne herauszog damit das Wasser abläuft. Am Freitag spät abends rief ich einen Notarzt an weil ich über 39 Grad Fieber hatte. Nachdem er kam und mich untersucht hatte, meinte er das es sich um eine Grippe handelt. Er ließ mir einige Medikamente da, stellte mir ein Rezept aus und meinte, falls es mir am Montag nicht besser geht, dann sollte ich doch meinen Hausarzt konsultieren. Das folgende Wochenende dämmerte ich zu Hause im Bett mehr oder weniger vor mich hin. Am Montag morgen, mittlerweile hatte ich 40 Grad Fieber, fuhr ich in die Notaufnahme eines Krankenhauses wo eine Pcp diagnostiziert wurde. Ich erfuhr die Auswirkungen des HIVirus am eigenen Leib. Dies war der Beginn von Erfahrungen die mir bewußt machen sollten, das mein Leben eine drastische Veränderung nahm bzw nehmen würde.
Die PcP (Volltexte – AIDS Taschenwörterbuch – Buchstabe P) war damals gut behandelbar, sodaß ich das Krankenhaus, recht geschwächt und wackelig auf den Beinen, nach 3 Wochen wieder verlassen konnte. Bei der anschließenden Untersuchung bei meinem HIV Schwerpunktarzt in Frankfurt, bei dem ich seit mittlerweile 13 Jahren in Behandlung bin, stellte sich dann heraus das meine CD4 Werte (Volltexte – AIDS Taschenwörterbuch – Buchstabe C) auf 152 gefallen und meine Virusbeladung auf über 1 Mio angestiegen waren. Da es mittlerweile – Gott sei Dank sage ich Heute – die Möglichkeit gab 3 HIV Medikamente die an unterschiedlichen Stellen des Immunsystem – den Zellen wirkten ein Anstieg der Virusbelastung verhinderten und gleichzeitig das Immunsystem wieder stärkte was sich im Anstieg der CD4 T Helferzellen ausdrückte, fing ich im Januar 1997 mit einem 3 er Medikamenten Cocktail (AZT – Epivir – Crixivan) an. Immerhalb weniger Monate war meine Virusbelastung unter der Nachweisgrenze ( 1997 lag sie bzgl der med. technischen Voraussetzungen diese zu messen bei 500), die CD4 Werte (T-Helferzellen) stiegen ganz langsam an und bewegen sich heute je nach Tagesform zwischen 300 und 450.
Crixivan war eines der ersten Medikamente aus der Gruppe Proteasehemmer (Volltexte – AIDS Taschenwörterbuch – Buchstabe P) die in Kombination mit anderen HIV Medikamenten die damals zur Verfügungen standen erstmals wirksam die Verbreitung des HIVirus – die sich u.a. in einem Anstieg der Virusmenge welches sich negativ auf das Immunsystem auswirkte und somit vielen Krankheiten die Tür öffneten, stoppte bzw sehr stark einschränkte. Da die Einnahme eines jeden Medikamentes, selbst das allseits bekannte Aspirin Nebenwirkungen hat die auftreten können aber nicht müssen “ Keine Wirkung ohne Nebenwirkung“ so hat auch der Wirkstoff Indinavir in Crixivan= Handelsname Nebenwirkungen. Nebenwirkungen können aufteten sie müssen aber nicht auftreten. Und – nicht jeder hat die gleichen Nebenwirkungen.
Die Nebenwirkungen unter denen ich zu leiden hatte waren, Durchfall, Magen und Darmbeschwerden bzw Krämpfe im Magen und Darmbereich. Anfangs sagte ich mir das dies normal sei, da der Körper sich an diese Antiretroviralen Kombinationstherapie (Volltexte – AIDS Taschenwörterbuch – Buchstabe A) ja erst gewöhnen müsse. Darauf machte mich auch mein Arzt aufmerksam, sagte das die Nebenwirkungen idr nach einer Zeit geringer oder gänzlich verschwinden würden. Durch mein Leben zieht sich wie ein roter Faden eine Leidensfähigkeit die – Zeitlich gemessen und im Vergleich zu manch Anderem äußerst befremdlich erscheinen mag. Anders ausgedrückt ich muß erst 10 mal mit dem Kopf an die Wand rennen bevor mir nach dem 11. Mal bewußt wird das ich auf diesem Weg das Zimmer auf der anderen Seite nicht erreichen kann, und das es möglicherweise einen anderen Weg gibt um in dieses Zimmer zu gelangen.
So erging es mir unter der Einnahme mit Crixivan. Wochenlang hatte ich die Hoffnung und den Glauben das mein Körper eben Zeit braucht und er irgendwann diese Medikamente annehmen würde mit dem Ergebnis das die Nebenwirkungen dann ein Ende haben würden. Das sagte ich auch jedes Mal meinem Arzt bei den entsprechenden Untersuchungen/Arztterminen um den Verlauf – die Auswirkung der Kombi auf mein Immunsystem zu besprechen. Mit zunehmender Dauer jedoch wurde der Zustand, die Nebenwirkungen nicht geringer sondern nahmen auf eine Art und Weise zu über die ich mir Anfangs gar nicht bewußt wurde. Wenn ich mich wenig bewegte hatte ich relativ Ruhe vor Ihnen. D.h. ich bewegte mich so wenig wie möglich und verließ meine Wohnung nur dann wenn es unbedingt notwendig war. Dazu gehörten Arztbesuche und Einkaufen gehen. Alle anderen Aktivitäten wie Freunde treffen, Schwimmen gehen, Radfahren oder den wöchentlichen Besuch meiner Eltern stellte ich komplett ein. Meine ganzen Gedanken und mein ganzes Tun i.e. Nichtstun drehten sich um das Vermeiden der Nebenwirkungen der Kombi, meiner Beschwerden sowie dem unerschütterlichen Glauben daran das es bald ein Ende haben würde. Mein Körper braucht halt n bischen länger bis er sich an die Medikamente gewöhnt hatte. Von dieser Meinung war ich felsenfest überzeugt und davon konnte mich auch mein Arzt nicht abbringen. So verbrachte ich den Sommer 1997 auf meinem Bett liegend und wartend das mein Zustand besser werden mögen. Es gab Zeiten da war ich ohne Hoffnung und wünschte mir nichts sehnlicher als nicht mehr zu leben damit dieser Zustand endlich ein Ende haben möge, nur um diese Nebenwirkungen, von zeitweise heftigem Durchfall bis hin zu schmerzhaften Magenkrämpfen, nicht mehr zu spüren.
Irgendwo war ich mir diffus bewußt, das dieser Zustand des mich in meiner Wohnung verkriechens, nicht unter die Menschen zu gehen eine Art freiwillige Isolation war und das dies irgendwie nicht mehr normal im Sinne von Gesund war. Die Annahme das Menschen mir meinen Zustand ansehen könnten wenn sie mir begegneten, die Angst von Freunden erkannt und angesprochen zu werden bewirkten das ich mit gesenktem Haupt und nach unten gerichtetem Blick um ja niemand ins Gesicht schauen zu müssen nicht nur kurz vor Ladenschluß einkaufen ging sondern auch tagsüber die Rolläden an den Fenstern meiner Wohnung unten waren, sodaß jeder dachte ich sei nicht zu Hause.
Irgendwann, es war gegen Ende des Sommers im September 1997, hatte ich einen jener Momente die man als “ Bright Moments“ bezeichnen könnte. Ich sah mich auf dem Boden eines tiefen Loches sitzen, sah wenn ich nach oben schaute am Ende einer Tunnelröhre das da Licht, das da der Ausgang war den ich aus eigener Kraft aber nicht würde erreichen können. Mir war in diesem Moment bewußt das ich Hilfe brauchte. Die Hilfe anderer Menschen. Die einzigste Person zu der ich in dieser Zeit noch Kontakt hatte war Ilona. Mit ihr telefonierte ich hin und wieder. Sie wußte was mit mir los war, wußte wie es mir ging. Eines Tages gab sie mir den Tip das es eine Klinik, die Habichtswaldklinik in Kassel gibt, wo ich die Hilfe bekommen könnte mit der es mir möglich sein könnte um aus diesem Loch in dem ich mich befand wieder herauszukommen.Diese Klinik hatte zu dem damaligen Zeitpunkt immer ein bestimmtes Kontingent an Betten – Zimmer zur Verfügung, die unter bestimmten Voraussetzungen ohne die übliche lange Vorlaufzeit sowie Genehmigung der Kostenzusage durch Krankenkassen bzw sonstiger Träger auf Grund einer entsprechenden Diagnose und Einweisung eines Hausarztes jederzeit in Anspruch genommen werden können.
Woher ich die Energie, die Kraft und vor allem den Mut genommen habe letztendlich nach Kassel zu kommen weiß ich nicht und ist im Grunde genommen auch sekundär. In meinem Leben ist es wiederholt so gewesen das der Leidensdruck, die Angst vor einem Zustand wie er sich im Moment mir darstellt, größer sein – werden mußte als die Angst vor einer Veränderung, vor einem Zustand wie ich ihn mir vorstelle. Die Angst vor dem wie ich mir ausmalte das etwas sein könnte, mir ausmalte wie andere Menschen mich bewerten könnten, was diese über mich denken könnten verhinderte mehr wie einmal mich auf Veränderungen einzulassen. Das was ich mir vorstellte war immer ein Worst Case Scenario, der Supergau – ein größt möglicher vorstellbarer schlechtester Zustand gewesen. Das ist eine der elementarsten Erfahrungen die ich durch das Einlassen auf das Hilfsangebot Anderer in meinem Leben machen durfte, das die größten Steine auf meinem Weg, die dicksten Mauern mit denen ich mich konfrontiert sah, diejenigen sind, die ich mir in meinen Gedanken als ein Bild vorstellte, die zu überwinden unmöglich sind.
Mein Aufenthalt in der Habichtswaldklink belief sich auf 12 Wochen. Die ersten Wochen waren für mich geprägt von Ablehnung, Annahme und Zweifel. Im nachhinein betrachtet waren diese 12 Wochen mit die beste Erfahrung in meinem Leben, bis jetzt. Ich habe sehr viel aus dieser Zeit mitnehmen können, einige Wergzeuge die ich heute anwenden kann wenn ich wieder mal in eine Grube falle.
Je mehr ich mich auf die Menschen die dort arbeiteten einließ und ich bereit wurde mich auf mich selbst einzulassen umso mehr stellte ich irgendwann fest das meine Bereitschaft Hilfe anzunehmen, stimmig war und sich für mich als Lösung darstellten. Ich sage bewußt das es nur für mich eine Lösung ist. Die Einsicht in die eigene Hilflosigkeit, die Einsicht Hilfe als Teil einer Lösung anzunehmen, die Bereitschaft sich einzulassen, und das Bewußtsein das man letztendlich einen Weg immer nur – wenn auch mit Unterstützung – allein geht sind einerseits Realität wie andererseits auch nichts weiter als Konzepte da jeder Mensch sich vom Anderen unterscheidet. Was für den Einen möglich ist, daran zerbricht ein Anderer.
* * *
Vor einigen Tagen wurde ich durch einen Freund auf einen Artikel “Sein Rezept gegen die Krankheit ist er selbst” aufmerksam gemacht der in vieler Hinsicht außergwöhnlich ist. Zum einen was die journalistische Herangehensweise betrifft, sachlich, objektiv und in keinster Weise tendenziös, zum andern was den Inhalt des Artikels betrifft. Ein außergewöhnlicher Artikel über einen außergewöhnlichen Menschen.
Was mich erstaunte und zugleich erfreute war die Tatsache das da noch jemand ist der sich HIV von einer ganz anderen Seite annähert, betrachtet und das er seine Gedanken in die Öffentlichkeit getragen hat, sie mit ihr teilt. 1997, dem ersten Jahr meiner HIV Therapie war für mich das Jahr in dem ich mich mit HIV auf einer anderen Ebene auseinandersetzte. Der Artikel über/von Thomas aus Bremen hat mir Mut gemacht und mich bestärkt, meine Gedanken die ich damals zu Papier brachte in meinen Blog einzustellen.
Den Virus in Liebe umarmen
Samstag 10.10.1998
Thema, immer wieder mal, ist der Virus. Der Virus will leben. Zu leben für ihn heißt, seiner Art entsprechend sich zu ernähren und sich zu vermehren. Seine Lebensgrundlage ist mein Körper. Um zu existieren benötigt er mein Immunsystem. Es ist die Grundlage, Nahrung für ihn, die es ihm ermöglichen, sich am Leben zu halten. Für mich hat es den Effekt, das er mich als Nahrung verwendet und ich dabei langsam aufgezehrt werde. Mit dem Ergebnis, das wenn ich aufgezehrt bin, er keine Nahrung mehr hat um zu leben. Leben wollen und die Art und Weise auf welche Weise der Virus dies umsetzt, heißt am Ende sterben. Ich als Nahrungsquelle und er als Lebensform. Das heißt also, das beide auf lange Sicht nicht weit kommen. Wir beide wollen leben und nicht sterben. Und schon gar nicht das einer auf Kosten des anderen lebt.
Wie kann der Virus also weiterleben ohne mich aufzuzehren, ohne mich als Nahrung zu sich zu nehmen?
Tabletten! Nun sie verhindern, bzw. erschweren es ihm zur Zeit ganz erheblich, das er die Nahrung bekommt, die er zum weiter leben, zu seiner Vermehrung benötigt. Indem ich durch die Einnahme von Tabletten seine Existenz bedrohe, ihn am Leben behindere, erhalte ich die Chance zum weiterleben. Ihn bedrohen, ihn angreifen, seine Vermehrung zu verhindern oder zumindest erheblich einzuschränken, ist die Grundlage für mein weiter leben. Doch irgendwie habe ich dabei ein ganz merkwürdigen Geschmack in mir. Wie kann der Tod eines anderen Wesen die Grundlage für mein Leben sein? Das ist nicht stimmig.
Was ist die richtige Einstellung? Was könnte eine Lösung sein?
Den Virus in Liebe umarmen. Dies ist ein Satz der mir in den Sinn gekommen ist. Ich kann seine Bedeutung nicht erklären, fühle aber, das es eine Möglichkeit für beide ist.
Die andere Seite ist die: Wenn wir beide Tod sind, heißt das, das kein Leben mehr existiert? Was läßt mich annehmen, das Leben nur in Form eines Körpers existiert? Ist Leben an eine Form – einen Körper gebunden? Leben ist geprägt von Veränderung. Veränderung heißt Wandel, Wechsel. Ein Keim wird zu einem Stamm. Aus ihm entstehen Knospen die sich in Blätter und Blüten verwandeln. Aus den Blüten werden Früchte, die wir zu uns nehmen. Diese Nahrung sättigt uns. Sie gibt dem Körper entsprechende Stoffe die er benötigt. Was er nicht benötigt scheidet er aus. Es findet also permanent ein Wandeln statt, eine Veränderung statt. Und jede Form hat ihre Aufgabe zu erfüllen. Ob im festen, im stofflichen, im flüssigen oder im nicht stofflichen Bereich. Alle beinhalten sie Leben. Die eine Form, die Blüte, den Apfel, den Saft, sehen wir. Wir können ihm schmecken, riechen, fassen. Die andere Form Energie, Kraft die wir durch ihn bekommen, können wir nicht sehen, riechen oder schmecken, aber wir spüren sie. Insbesondere nach einer langen Krankheit merken wir, spüren wir wie uns Essen kräftigt.
Ich glaube das nach dem Verlassen des Körpers, dem Ablegen des Körpers so wie man abends wenn man ins Bett geht, seine Kleidung ablegt, das Leben auf einer anderen Eben weitergeht. Für mich, für den Virus, für jede Lebensform, für jedes Wesen. Wenn Leben von Veränderung geprägt ist, dann heißt das, das Leben in verschiedenen Formen, auf verschieden Ebenen stattfindet.
Der Virus und ich wir haben uns aus welchen Gründen auch immer getroffen und gehen zusammen durch dieses Leben. Wir sind aneinander gebunden. Anscheinend ist das unsere Bestimmung. Es macht mir keine Angst, die Dinge so zu sehen. Was mir Angst macht, sind Schmerzen. Und ich hoffe das ich keine, oder so wenige wie möglich haben möge. Egal ob Virus bedingt oder nicht. Aber wie heißt es doch so schön: Durch Schmerzen wird man geboren. Ohne Schmerz kein neues Leben. Schmerzen heißt in diesem Sinn Altes ablegen. Na ja. Ich hätt’s gern etwas schmerzloser, but than on the other hand I might not.
Eine Geschichte über die Unglaubwürdigkeit des Geistes
Donnerstag 15.10.1998
Bis vor einem Jahr lag die Nachweisgrenze mittels einer technischen Meßmethode – PCR – für den HIV – Virus bei 500 Kopien pro ml Blut. Das heißt, wenn mir der Arzt bei nem Termin damals gesagt hat, das kein Virus mehr in meinem Blut festzustellen sei, ich mich echt gefreut habe. Ah, geil. Kein Virus festzustellen, die Virusvermehrung ist weiterhin erfolgreich angehalten, die Krankheit nimmt keinen weiteren Verlauf. Keine Virusbelastung festzustellen hieß damals, das 499, 350, 120 oder noch 15 Viren im Blut sein konnten. Das war der Stand der Dinge vor einem Jahr.
Mittlerweile liegt die Nachweisgrenze bei 20 Kopien pro ml Blut. Im Juni diesen Jahres hatte ich mich in der Uni Klinik untersuchen lassen, im Juli wurden mir dann die Ergebnisse mitgeteilt. An diesem Tag – und schon während der letzten Wochen – fühlte ich mich gut. Mit ging es einfach gut. Also, ich mein gute Laune Gesicht aufgesetzt, die Tür auf und rein zum Arzt. Hallo Doc. Wie geht´s? Üblicher Small Talk und dann der entscheiden Satz. Ihre Virusbelastung ist auf 100 Kopien pro ml Blut angestiegen. Als ich das hörte fiel ich in ein tiefes Loch. Ich habe mich total schlecht gefühlt. Scheiße, die Krankheit ist ausgebrochen. Das war mein erster Gedanke. Jetzt ist alles vorbei.
Wir nehmen ihnen heute noch mal Blut ab um sicher zu gehen, sagte mein Arzt. Als mir einige Minuten später die Krankenschwester Blut abnahm, war ich wieder fähig zu klarem Denken. Und ich fing an mich über mich, die Arbeitsweise meines Geistes zu wundern. Noch vor einem Jahr hatte ich mich über die Info „Virusbelastung unter 500“ gut gefühlt. Doch heute haut es mir bei der Info „100 Kopien pro ml Blut“ erst mal total den Draht raus. Und das verrückte daran war, das ich mich in der Zeit von Juni – Blutabnahme – bis zu dem Arzttermin heute im Juli – jeden Tag gut gefühlt habe. Mit ging es gut bis zu dem Moment als mir der Arzt die magische Zahl 100 sagte. Als mir das klar wurde mußte ich über die Art und Weise wie mein Geist arbeitet grinsen. Ich konnte wieder tief durchatmen. Mir ging es wieder besser.
Mittwoch 21.10.1998
Gestern war ich in der Uni. Ergebnisse der letzten Blutabnahme – alles im grünen Bereich – und – Thema heute – Medikamenten Wechsel.
Seit Berlin steht für mich fest, das ich Crixivan absetzen und Evafirenz nehmen werde. Crixivan greift ganz erheblich in meinen Stoffwechsel ein. Ich, lebende 100 Kilo, Streichholzbeine, Streichholzarme und Kartoffelbauch. Jede Stufe, jedes Einsteigen in den Bus oder Zug, jede Tasche die ich trug, es wurde immer beschwerlicher für mich. Die Frage nach Lebensqualität war wieder präsent. Während der letzten Wochen habe ich mich innerlich auf das neue Medikament vorbereitet. Darauf, das mit dem neuen Medikament der Muskelschwund ein Ende haben möge. Ich hatte die ganze Zeit ein gutes Gefühl gehabt, weil die Informationen die ich einholte für mich gut klangen. Gleiche Wirkungsweise was die Wirksamkeit in Bezug auf den Virus betrifft und was für mich rüber kam, es gibt weitaus weniger unangenehme Nebenwirkungen und nicht so heftige wie bei Crixivan. Einmal am Tag nur zu nehmen und unabhängig von Mahlzeiten. Das allein ist schon ein starker Faktor gewesen.
Beim Arzttermin in der Uni fragte mich mein Doc, ob ich Auto fahre. Nein, sagte ich. Ok, dann können Sie dieses Medikament nehmen. Die erste Zeit werden sie ein Rauschgefühl verspüren, sagte er, aber das geht nach ner Zeit vorbei. Als ich das Wort Rausch hörte wurde mir innerlich ganz mulmig zumute. Abhängigkeit als Folge von “eine Substanz nehmen müssen“ , war das was mir dabei als Estes in den Sinn kam und mir in diesem Moment Angst machte. Na ja, sagte ich zu ihm, ich glaube es kommt darauf an wie ich die Dinge heute sehe. Es ist ein Medikament das ich nehme und das zu meiner körperlichen Genesung beiträgt.
Let it go – Let it flow – © Dave Mason
Mittwoch 21.10.1998, 23.30 Uhr
Um 23.30 habe ich 3 Sustiva genommen. Als ich das erste Mal dieses neue Medikament nahm, war die Einnahme schon von einem ängstlichen Gefühl begleitet. Aber es war nicht die Angst vor dem Gefühl eines Rausch, sondern mehr vor den unangenehmen Wirkungen, bzw. den möglichen Reaktionen meines Körpers auf dieses Medikament. Ich hatte Angst und doch war es mir möglich ja zu meiner Angst zu sagen. Ich merke immer mehr wie wichtig es ist „ Ja“ zu sagen. Ja zu meiner Angst, Ja zu meinem Schmerz, ja zu allem was mir unangenehm ist. Und dieses Ja sagen nimmt sehr viel von dem „Unangenehmen“. Die Angst wird weniger. Sie verliert an Macht über mich. Ich kann an Dinge wesentlich ruhiger heran gehen, kann ihnen ruhiger gegenüber treten.
Ich lag im Bett und war achtsam. Nach zwei Stunden spürte ich starken Schwindel im Kopf. Ah, Schwindel im Kopf, stellte ich fest. Als ich auf die Toilette ging, merkte ich wie wackelig ich auf den Beinen war. Ich mußte an der Wand entlang gehen. Ah, Schwäche in den Beinen. Und ich nahm wahr, welchen Einfluß das Medikament auf meine Emotionen hatte.
Donnerstag 22.10. 1998
Als ich heute morgen aufwachte hatte ich Kopfschmerzen und war bis Mittag noch ganz schön benommen. Irgendwann am Nachmittag waren diese Wirkungen vorbei und ich ging einkaufen.
Durch Crixivan bin ich mit viel Angst konfrontiert worden. Doch diese Auseinandersetzung mit diesen Ängsten, und zu erfahren was tatsächlich mit mir passierte, hat mir Mut gemacht, Vertrauen gegeben und meine Angst kleiner gemacht. Angst und Schmerzen sind wirklich Lehrmeister.
Ich fühle mich sehr ruhig. Ich bin wach, nehme meinen Körper, die Wirkung, die Sustiva auf meinen Körper hat, bewußt wahr. Und dies ohne Angst. Ohne Vorbehalte. Ah, so ist das. Ah, das passiert in meinem Kopf, in meinen Gefühlen, in meinem Körper. Und ich trage dem Rechnung. Bin ich schwindlig, lege ich mich hin, fühle ich mich benommen, laufe ich langsam und vorsichtig. Es ist ein langer Weg um da hinzukommen und nicht immer einfach ihn zu gehen.
“Nebenwirkung”, dieses Wort hat einen Beigeschmack von etwas von dem ich meine das es nicht dazugehört. Also wird dann in der Folge alles was man als nicht zum Heilungsprozeß dazugehörig definiert als negativ, als nicht wünschenswert betrachtet. Schwindel, Durchfall, Blähungen, Hautausschläge, usw. Dinge die nicht in unser gegenwärtiges Verständnis vom gesunden Menschen passen. Ergo das Unangenehme gehört nicht dazu, lehnt man ab. Dies bedingt, das man sich schlecht fühlt, das es einem dann wirklich schlecht geht. Welch ein Wahnsinn. Wenn ich Durchfall habe, dann ist Durchfall in diesem Moment ein Teil von mir. Habe ich Schwindel. Blähungen, Schmerzen, dann sind dies in diesem Moment Teile von mir, gehören zu mir, machen mich mit aus. Dies zu akzeptieren, so zu erfahren befreit von dem Verhaftet sein in der Unwissenheit. Ergo geht es mir besser. Ich fühle mich in dem Maße wohl mit mir, in dem Maße in dem ich in der Lage bin mich anzunehmen. Mit all dem was ich habe. Alles das was ist bin ich. Freiheit beginnt in mir.
Samstag 24.10. 1998
Ich bin ganz schön aggressiv. Der Schwindel und die Benommenheit war nicht mehr so heftig wie tags zuvor. Mit dem Schlafen hat es auch ganz gut geklappt. In der Nacht bin ich aufgewacht und habe in meiner linken Gesichtshälfte ein Kribbeln gespürt. Mein erster Gedanke war Schlaganfall, bzw. Anzeichen für einen Schlaganfall. Scheint mit dem Medikament zusammen zu hängen. Jetzt, es ist kurz vor 13.00 Uhr, ist die Benommenheit nicht mehr so stark wie an den beiden ersten Tagen. Ich habe aber immer noch einen leichten Schmerz über meinem linken Auge. Beim Tragen habe ich das Gefühl, das in meinem linken Arm nach einiger Zeit ein taubes Gefühl aufkommt. Na ja. Ich hoffe es ist alles nur Medikamenten bedingt und verschwindet nach einiger Zeit wieder. Ich bin doch besorgt was das Kribbeln in meiner linken Körperhälfte betrifft. Ich werde mal in der Uni anrufen. Vielleicht bekomme ich einen Arzt von der Station 68 an den Apparat. Kann die Ursache für meine Aggressivität mein tägliches Unwohlsein, bedingt durch die Medikamente, sein? Scheint so. Soviel zu Annahme.
Es ist kurz nach 22.30. Ich habe ein mulmiges Gefühl im Magen beim Einnehmen der Medikamente. Wie wird es werden? Taubes Gefühl in der linken Gesichtshälfte, den ganzen Tag leichte Kopfschmerzen, ein Gefühl ähnlich wie Migräne. Und im Glauben – Wissen das dies mich nun die nächsten 10 Tage begleiten wird. Nur daran zu denken macht mich schon aggressiv, macht das ich mich beschissen fühlen. Die ersten beiden Tage habe ich alles was sich in meinem Körper abspielte mit Neugierde beobachtet. Heute, am dritten Tag gelingt es mir nicht den Standpunkt des „Beobachters“ einzunehmen. Gegen Mittag ist die Benommenheit verschwunden, doch bis zum Abend habe ich Kopfschmerzen. Da ist nichts mit annehmen und das akzeptieren was ist. Es ist ein verdammt unangenehmes Gefühl das ich da den ganzen Tag habe und ich fühle mich total mies damit. Die Vorstellung, das dies für die nächsten Tage so weiter gehen könnte, macht es mir sehr schwer, die Tabletten ohne Angst zu nehmen. “Nur für Heute” ist verdammt schwer zu praktizieren. Wie wende ich dieses Prinzip an? Nur für heute geht es mir schlecht? Was nicht heißt das es morgen auch so sein muß? Wie begegne ich dem Morgen? Die Tabletten nehme ich jetzt. Zu hoffen das die Wirkung morgen nicht so sein möge wie heute? Dies ist alles was ich tun kann. Es ist keine Garantie, nur Hoffnung, das es morgen besser sein möge. Aber es bedeutet auch nicht das es mir morgen genauso schlecht gehen muß wie heute. Sehr schwer, wenn man sich den ganzen Tag unwohl gefühlt hat.
Annäherung
Sonntag 25.10. 1998
Der Sturm ist abgeflaut. Die Sonne scheint und unter dem blauen Himmel jagen die Wolken dahin. Ich bin total begeistert. Keine Kopfschmerzen, Kein taubes Gefühl im Gesicht. Ein ganz leichter Schwindel und eine leichte Benommenheit die mein Gesamtbefinden nicht so sehr beeinträchtigen so daß ich sagen könnte „Ich fühle mich schlecht“. Nicht zu vergleichen mit dem Zustand der letzten Tage. Ist es wirklich so, das der Geist einen großen Einfluß auf die Gesundheit hat, darauf hat wie man sich körperlich fühlt? Es scheint fast so. Gestern war ich sehr verzweifelt. Oh Gott, dachte ich, wenn ich mich in den nächsten Tagen auch noch so schlecht fühle. Mir stand die Erfahrung mit den unangenehmen Wirkungen von Crixivan und der langen Dauer noch sehr deutlich und klar vor Augen. Wenn dies mit diesem Medikament auch so sein wird . . . . . . Dies waren meine Gedanken.
Die letzten Zwei Jahre ging es mir gut. Gut gehen heißt u. a. für mich, ich hatte keine Virus spezifischen Krankheiten. Der Virus hat sich nicht vermehrt, mein Immunstatus hat sich gefestigt. Es ist weder Verdrängen noch Vergessen, es ist gesund sich wohl zu fühlen und das Leben zu genießen!
Spät am Abend habe ich mich hingesetzt und von diesen Erfahrungen, diesen Ängsten losgelassen so gut ich es konnte. Das eine war Crixivan, war gestern, war die Vergangenheit. Das andere ist Efavirenz, ist heute, Gegenwart. Anscheinend trifft auch für einen schmerzhaften Zustand das “Nur Für Heute” zu. Nur für Heute habe ich Kopfschmerzen, bin ich sehr benommen, Nur für Heute fühle ich mich schlecht. Was morgen sein wird weiß ich nicht. Ich hoffe das es morgen besser sein möge. Die Erfahrung i.e. das Wissen um schmerzhaftes aus der Vergangenheit löst Angst in mir aus die sich in mir festsetzt, an der ich heute festhalte. Ich war sehr auf den Schmerz, das körperliche Unwohlsein fixiert. Immer wieder habe ich mir gesagt: “Oh Gott, wenn ich mich morgen, in den nächsten Wochen so fühle wie heute, na dann gute Nacht.
Soviel Macht wie ich den Dingen gebe, soviel Macht haben die Dinge über mich.
Dies ist die Erfahrung von Schmerz aus der Vergangenheit. Erfahrung = Wissen. Dieses Wissen ist in mir gespeichert und verursacht Angst. Also räume ich der Angst Macht ein. Das heißt die Angst, die in der Vergangenheit ihre Ursache hat, nehme ich in die Gegenwart mit hinein. Somit hat sie Heute Macht über mich. Ich habe Angst = ich bin Angst. Wie kann ich dieses Prinzip „ Den Dingen Macht einräumen“ auf Nicht Angst anwenden? Wie kann ich die Angst aus der Gegenwart heraus halten? Welches ist die Basis für die Nicht Angst, für ein angstfreies Sein in der Gegenwart? Mir fällt dazu viel Theorie ein. Das wesentliche für mich ist jedoch ob es innerlich für mich stimmig ist. Vertrauen. Glaube. Habe ich dieses Gefühl von Vertrauen innerlich in mir? Nicht im Kopf, nicht im Verstand sondern im Herz. Erst wenn ich es da spüre kann ich sagen, ich vertraue, ich glaube. Und dann erst funktioniert es. Für mich funktioniert es auf diese Art und Weise.
Eines weiß ich definitiv. Ich weiß nicht wie etwas wirken wird. Ich habe eine Vorstellung und die hat viel mit Erfahrungen, Wissen aus der Vergangenheit zu tun – aber ich weiß nicht wie etwas sein wird. Ein Weg dahin dies zu erfahren ist wach bzw. achtsam zu sein. Das heißt, ich beobachte, nehme wahr was in mir passiert ohne zu bewerten. Kann sein das ich dabei feststelle, ah so eine ähnliche Erfahrung habe ich schon mal gemacht. Aber es wird immer nur ähnlich sein. Niemals das gleiche. Wenn ich wahrnehme, beobachte, dann denke ich nicht, dann bin ich nicht in meinen Vorstellungen, in meiner Angst verhaftet. Ein Weg zur Nicht Angst für mich? Eines ist sicher. Meine Vorstellungen, die in der Vergangenheit ihren Ursprung haben, halten mich heute oft davon ab, im Jetzt zu leben, den Dingen den Stellenwert einzuräumen, den sie tatsächlich innehaben.
Montag 26.10. 1998
Das Schwindelgefühl nach der Einnahme von Efavirenz ist längst nicht mehr so stark wie in den ersten beiden Tagen. Ich habe allerdings einen sehr unruhigen Schlaf mit vielen wach Perioden und wilden Träumen. Heute morgen bin ich um 8.30 aufgewacht. Nur noch ganz leicht benommen. Als ich in die Stadt gefahren bin, habe ich im linken Fuß ein Gefühl des Kribbeln und leichte Taubheit gespürt. So wie wenn ich aus der Winterkälte in eine warme Stube komme und das Blut langsam in die kalten Füße zurückkehrt, so fühlte es sich an. Meine linke Seite fühlt sich auch irgendwie merkwürdig an.
Dienstag 27.10. 1998
Es regnet und ich fühle mich wohl in meiner Haut. Hab gerade gefrühstückt. Milchkaffee, selbstgemachter Quittengelee, Brötchen.
Welches sind die Vorteile von dem neuen Medikament? Ich habe kein Gefühl der Schwere im Magen, keine Blähungen, keine Darmkrämpfe mehr. Die Muskeln in den Beinen schmerzen nicht mehr beim Aufstehen, beim Treppen steigen. Nicht mehr darauf achten was ich wann essen darf bzw. nicht essen darf.
Heute nacht habe ich sehr schlecht geschlafen. Ob es mit Efavirenz zusammenhängt? Nun es ist zunehmender Mond und da habe ich auch schon in der Vergangenheit manches Mal lange wach gelegen. Kein Schwindel, kein Kribbeln mehr. Die Benommenheit ist fast verschwunden. Alles in allem, so scheint es, hat mein Körper das neue Medikament angenommen. Und dies ohne spürbare unangenehme Wirkungen. So wie es heute aussieht, zieht Efavirenz weniger unangenehme Wirkungen in meinem Körper nach sich als Crixivan.
Fragile – © Sting
Letzte Nacht bin ich mir der Zerbrechlichkeit meines Körpers wieder sehr gewahr geworden. Zerbrechlich im Sinne von „Ich bin sterblich“. Trotz aller Medikamente bin ich mir darüber im klaren, das mein Tod etwas wirkliches ist, und ich jeder Zeit, jeden Moment sterben kann. Wenn Efavirenz, wenn kein Medikament mehr den Virus in Schach hält, dann beginnt heute mein Prozeß des Sterbens, des körperlichen Verfalls. Beginnt er wirklich erst dann oder hat er nicht schon mit dem Tag meiner Geburt angefangen? Selbst jetzt wo ich dies schreibe, fühle ich keine Angst in mir. Klar. Ich habe auch keine Schmerzen, fühle keine körperliche Schwäche, magere nicht ab, liege nicht im Bett. Aber der Gedanke an den Tod macht mir keine Angst. Ich kann ihm gerade ins Auge sehen. Finde ich gut. Kein Verdrängen, kein Weglaufen oder wegschieben mehr. Diese Krankheit hat mir für vieles die Augen und das Herz geöffnet.
Oktober 1999
Heute habe ich die Pflanzen, die während des Sommers im Garten standen umgetopft und in die Wohnung gestellt. Im Sommer stelle ich die Blumen, die ich in der Wohnung habe in den Garten und jetzt, im Herbst topfe ich sie um, stelle sie wieder in die Wohnung. Ist schon irre. Als ich noch bei meinen Eltern wohnte – sie haben ein Haus mit Garten – hat es regelmäßig Zoff gegeben weil ich mit Gartenarbeit nie was am Hut hatte. Ich habe eine große 1 Zimmerwohnung mit – man glaubt es kaum – Terrasse und einem kleinen Garten. Jeden Tag gehe ich hinaus, schaue und erfreue mich an den blühenden Blumen und Pflanzen und wenn ich nur das kleinste Unkraut erblicke, dann nix wie weg damit. Es macht mir richtig Spaß und Freude zu pflanzen, zu hegen und zu pflegen.
Dieses Jahr hatten wir einen warmen, stellenweise heißen Sommer mit viel Sonne. Soviel und vor allem preiswertem Gemüse und Obst hat es seit Jahren nicht mehr gegeben. Ja es war ein fruchtbares Jahr gewesen.
Marmelade soweit das Auge reicht. Wildkirschmarmelade, dann Erdbeermarmelade. Danach war der Johannisbeeren und Brombeergelee an der Reihe und jetzt, zum Schluß der Saison kommt der Quittengelee an die Reihe. Außerdem Kürbis süß – sauer, Senfgurken und eingemachte rote Beete und Pflaumen süß – sauer. Wenn mir vor einigen Jahren jemand gesagt hätte, das ich Marmelade oder Gemüse einmachen würde, dann hätte ich ihn gefragt ob er was am Kürbis hat. Aber die Dinge verändern sich und das es so ist, das ist gut so.
Als ich 1985 hörte das ich HIV positiv bin, stand für mich fest, das ich noch maximal 3 Jahren zu leben hätte. Nach 5 Jahren wunderte ich mich das ich immer noch am Leben war, aber mehr auch nicht. Bis zum Jahr 1994 lebte ich weiterhin ein Leben auf der Überholspur. 1996 – ich hatte gerade eine Ausbildung als Erzieher begonnen – wurde der Virus aktiv. Die Folge davon war das ich die Ausbildung abbrechen mußte. Seitdem beziehe ich EU Rente. Da ist mir klar geworden „That I was living on borowed time“. Pläne zu machen war kein Thema mehr. Ich dachte höchstens in Wochen, mehr aber nicht. Jetzt, drei Jahre Kombitherapie später fühle ich mich soweit fit und gesund und gestatte mir einen Blick in die Zukunft zu richten. Doch immer in dem Bewußtsein, daß mein Wohl fühlen heute keine Garantie für das Morgen ist. Ich überlege mir ob ich zwei oder drei Stunden am Tag zu arbeiten soll. Acht Stunden jeden Tag, nun diese Zeiten sind vorbei aber zwei, drei Stunden am Tag, das traue ich mir zu, soweit fühle ich mich fit. Logisch auf mich mit meinem 49 Jahren und den 4 Millionen Arbeitslosen die es immer noch gibt, haben sie alle gewartet. Doch was für mich wichtig ist, ist die Tatsache das ich wieder Mut bekommen habe der Zukunft ins Auge zu sehen, Dinge in Angriff zu nehmen, die eine längerfristige Planung beinhalten. Und dennoch bin ich mir stets bewußt, das morgen alles anders sein kann. Auch das hat mich diese Krankheit gelehrt. Zu allem was ich tue immer eine gewisse Distanz zu haben. Weder dem einen noch dem anderen verhaftet zu sein. Was natürlich leichter geschrieben als praktiziert ist.
Ich komme immer mehr zu dem Glauben, das da irgendeine Macht ist, die stärker ist als ich. Zwar hat das Leben auch seine eigenen Pläne die außerhalb meines Tun und Wollen, meiner Absichten liegen, auf die keiner von uns einen Einfluß hat. Doch jeder verfügt über die Fähigkeiten Entscheidungen zu treffen welche Richtung man seinem Leben geben will.
Still I wonder
Irgendwann schaute ich auf die Uhr und stellte fest das es 00.05 Uhr geworden war. Seit 5 Minuten war ich 60 JAhre alt. Als Banker der ich mal war kam es mir auf einmal in den Sinn JETZT Bilanz zu ziehen.
Ich bin dankbar – dankbar dafür das ich lebe.
Vor 25 Jahren als man mir sagte „Sie sind HIV Positiv“ habe ich nicht im Traum daran gedacht 60 Jahre alt werden zu können. Und nun bin ich 60 geworden.
Ich bin dankbar – dankbar dafür
das ich alles habe was zum Leben notwendig ist. Und sogar mehr als das was ich zum Leben brauche.
In diesem Moment gab es nichts was ich vermißte – nichts was mir fehlte – nichts von dem ich glaubte es haben zu müsssen oder zu wollen.
So wie es ist – ist es stimmig
© Wolfgang Kirsch