Wenn das Undenkbare denkbar wird


. . . . Chronik der fortlaufenden Ereignisse – Intermezzo

§ 1 der Staatsverfassung (revidierte Ausgabe vom 1.1.1980)

Der Staat hat die Pflicht jeden Bürger vor inneren und äußeren Feinden zu schützen.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden hat der Staat das Recht nach Beurteilung der jeweiligen Lage geeignete Maßnahmen zu treffen.

Intro

Zu Anfang des neuen Jahrzehntes konnte man in den drei Staatsministerien für Sicherheit, Gesundheit und Verteidigung eine außergewöhnliche Emsigkeit feststellen. Trotz allen Bemühungen nichts nach außen dringen zu lassen, ging das Gerücht in der Hauptstadt um, daß eine der Nordseeinseln, die ausschließlich militärischen Zwecken diente, geräumt werden sollte. Ob sie geräumt werden  sollte oder mußte, darüber war man geteilter Meinung. Die einen behaupteten, daß die Insel infolge eines Giftgasunfalles in einer der dortigen Fabrikanlagen geräumt werden mußte, andere wiederum wiesen  diese Behauptung auf Grund der gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen für solche Anlagen als unbegründet zurück. Dies sei nichts weiter als ein Versuch der Opposition die Regierung in Mißkredit zu bringen. Wie dem auch sei. Die Insel wurde geräumt. Was zurückblieb waren leere Gebäude und eine von Bombeneinschlägen verwüstete Insel.

Ein halbes Jahr später fuhren ununterbrochen Kolonnen von Lastwagen zu dem am nächsten gelegen Hafen wo sie verladen und zur Insel übergesetzt wurden. Die Hafenanlage wurde zur militärischen Sperrzone erklärt, der Luftraum über der Insel für den zivilen Flugverkehr gesperrt.

Die Bevölkerung nahm dies alles mit einer Ruhe hin, die fast schon an Gleichgültigkeit grenzte. Warum sollte sie sich auch aufregen oder wie in den späten 70er Jahren auf die Straßen gehen? Alle hatten Arbeit. Die 2,5 Millionen Arbeitslosen hatten auf Grund eines groß angelegten Investitionsprogrammes an die privat Industrie einerseits und bei staatlichen neu geschaffenen Behördenstellen andererseits ein Auskommen gefunden.

Eines Morgens konnte man in allen großen Tageszeitungen des Landes folgende Anzeige des Gesundheitsministeriums lesen:

Das Staatsministerium für Gesundheit sucht 50 qualifizierte Ärzte, Chirurgen, staatl. geprüfte Pfleger, Laborfachkräfte und Krankenschwestern zur Leitung und Übernahme einer mittleren Klinik, die mit der neusten Technik ausgestattet ist. Überdurchschnittliche Bezahlung und Auslandszulage sind ebenso selbstverständlich wie Altersversorgung und Unterbringung. Mindestvertragsdauer: 5 Jahre.
Es war die einzigste Anzeige dieser Art und man kann annehmen, das die Stellen sehr schnell vergeben waren.

Das Problem

Das Problem trat am häufigsten in den drei folgenden Gruppen auf: Homosexuelle, Drogenabhängige und Prostituierte.

Die Lösung

Prostituierte

Bei den Prostituierten war es am einfachsten. Da sie regelmäßig zur Kontrolle mußten, konnte man am ehesten und ohne bei Ihnen Verdacht zu erregen feststellen ob sie infiziert waren oder nicht. Anfangs machte man den Versuch und teilte ihnen die Ergebnisse mit. Nachdem man aber festgestellt hatte, daß eine Zunahme der Infektion in diesem Personenkreis stattfand, ging man davon aus, daß die bereits infizierten Personen sich nicht so verhielten, daß eine Verbreitung ausgeschlossen wurde. Dies hatte zur Folge, daß sie nach einer der nächsten Kontrollen nicht mehr an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten. Ihre Kolleginnen verwunderte das in keiner Weise, da die Fluktuation unter den Prostituierten nichts außergewöhnliches war. Man nahm einfach an, daß sie in eine andere Stadt gezogen waren. Die örtlichen Gesundheitsbehörden taten ein übriges und bestätigten bei etwaigen Anfragen einen Wechsel der betreffenden Person in eine andere Stadt.

Drogenabhängige

Der zweite Personenkreis, die Drogenabhängigen, stellten die Gesundheitsbehörden vor größere Probleme. Es fanden verstärkt Razzien an allen einschlägig bekannten Plätzen statt. Jeder, der Einstiche hatte, wurde festgenommen und in eine der Landeskliniken für Psychiatrie eingewiesen. Unter dem Vorwand, einen Lebertest vorzunehmen, wurde ihnen Blut abgenommen um festzustellen wer sich infiziert hatte bzw. infiziert war. Da die meisten von ihnen schon mit der Justiz in Berührung gekommen waren, hatte man die Erfahrung gemacht, daß selbst nach längerem Gefängnisaufenthalt oder einer Therapie über 95% wieder rückfällig wurden. Man wußte bzw. konnte von der Annahme ausgehen, daß sie ihr Verhalten selbst wenn sie von ihrer Infizierung Kenntnis hatten, nicht ändern würden. Da die meisten von ihnen keine sozialen Kontakte oder familiäre Beziehungen unterhielten, fiel es niemandem auf, als sie nicht mehr auftauchten. Das Verhalten zwischen den Drogenabhängigen untereinander war so mit Gleichgültigkeit durchsetzt, daß mit dem nächsten Schuß die Erinnerung an Diese oder Jenen wie weggeblasen war.

Die Razzien beschränkten sich jedoch nicht nur auf öffentliche Lokale oder Plätze. Man wußte das ein großer Teil der Drogenabhängigen in der sogenannten privaten Scene untergetaucht war. Sie sah man niemals an den bekannten Plätzen. Viele von ihnen gingen arbeiten und führten ein nach außen hin normales Leben, so daß es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war sie zu finden. Aber die Verhaltensweise bzw. die Gleichgültigkeit vieler Drogenabhängiger derer man bereits habhaft war, half den Gesundheitsbehörden bei der Überwindung dieser Schwierigkeiten.

Die Ermittlungsbehörden konstruierten Fälle gegen die bereits Festgenommenen und sie versprachen ihnen Straffreiheit wenn sie zu Aussagen bereit waren. Auf den Gerichten befanden sich zahlreiche Unterlagen über Personen die wegen Drogenmißbrauches vor Gericht standen bzw.  gestanden hatten. So war es nicht weiter schwierig einen großen Teil dieser Personen ausfindig zu machen.

Diejenigen, von denen man nicht wußte, daß sie Drogen nahmen sahen sich jetzt vor das Problem gestellt sich ihren täglichen Bedarf woanders als bisher besorgen zu müssen, da der größte Teil ihrer Bekannten aus dem Verkehr gezogen waren. Die Folge davon war, das an der Grenze mehr Personen als bisher wegen Verstoßes gegen das BTMG festgenommen wurden. Es war dann nur noch eine Frage der Zeit bis man der übrigen Drogenabhängigen habhaft wurde. Diese Aktion hatte zur Folge, daß die Großhändler, die die Drogenabhängigen bisher versorgt hatten, Schwierigkeiten hatten ihre Drogen absetzen zu können. Da sie keine Absatzmöglichkeiten mehr hatten zogen sie sich allmählich zurück. Innerhalb kurzer Zeit ging die Kriminalität im Drogenbereich und in der Beschaffungskriminalität um über 95 % zurück.

Homosexuelle

Jetzt blieb nur noch die Homosexuellenszene übrig und diese war bei weitem der größte Personenkreis. Und da griff man auf die Praktiken zurück, derer man sich schon während der Zeit der RAF bedient hatte. Man infiltrierte die Scene. Das war relativ einfach, da sich dieser Personenkreis immer an den gleichen Plätzen aufhielt. Die Öffentlichkeit wußte, daß sie diejenigen waren, die am meisten betroffen waren. Gezielte Veröffentlichungen die Schrecken und Hysterie unter der Bevölkerung hervorriefen, ließen als Folge davon vermehrt den Ruf nach einer Meldepflicht, einer Verschärfung des Seuchengesetzes sowie ein wieder in Kraft treten des § 175 laut werden. Es wurde ein Gesetzes Paket verabschiedet, das eine Mindestfreiheitsstrafe von 5 Jahren wegen Verstoßes gegen die Meldepflicht und das Bundesseuchengesetzes vorsah. Das Gesetz der Meldepflicht traf auch für diejenigen zu, die von Homosexuellen Kenntnis hatten und dies nicht den Gesundheitsbehörden meldeten.

Diejenigen der Homosexuellen, die infiziert waren, bleiben verschwunden, die anderen kehrten nach einiger Zeit wieder zurück. Die Stimmung war von jeher gegen den Homosexuellen gewesen, so daß die meisten von ihnen unter der Angst lebten, daß ihre Homosexualität bekannt wurde und ihnen daraus persönliche und berufliche Nachteile entstehen könnten. Die Kampagne die jetzt gegen sie stattfand verschlimmerte nur ihre Situation. Es war daher nicht ungewöhnlich, das man in der Folgezeit regelmäßig über Geschäftsaufgaben, Auswanderungen  und Selbstmorde in den Tageszeitungen laß.

Da alle Personen aus den drei Gruppen nun bekannt waren, bzw. es keine Schwierigkeiten bereitete diese aufzufinden, war es den Gesundheitsbehörden ein leichtes durch regelmäßige Kontrollen festzustellen wer sich infizierte. Das Auftreten von erneuten Fällen war jedoch so gering, daß der Öffentlichkeit bald  mitgeteilt werden konnte, man habe die Krankheit in den Griff bekommen.

Der Boden für diese Aktionen war schon jahrelang vorbereitet worden. Da man jede der drei Gruppen durch die Art und Weise wie man über sie berichtet hatte in eine Außenseiterposition gedrängt hatte war eine Verständigung nicht mehr möglich gewesen. Was blieb, war der Ruf nach einem verschärften Durchgreifen Seiten des Staates. Und diese Krankheit gab dem Staat die Grundlage dazu. Als Nebeneffekt dieser Aktion ging die Kriminalität insgesamt um 50 % zurück.

Epilog

Für das Jahr 1987 ist eine umfangreiche Volksbefragung vorgesehen.

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Geschrieben im Jahr der Gauweilereien 1986 . . .

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